Kapitel 12

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Nicky

Erschrocken fuhr ich hoch. Wo war ich? Was war gerade passiert? Dutzende Fragen schwirrten in meinem Kopf herum. Suchend sah ich mich um. Ich lag in einem Bett. Es war aber nicht mein Bett, nein. Wo war ich?

„Nicky? Du bist wach?" Eine kratzige Stimme neben mir ließ mich aufschrecken. Dean? Er saß neben dem Bett auf einem klapprigen Holzstuhl. Er sah müde aus. Hatte er gerade geschlafen? Sah nicht gerade bequem aus.

„Wo bin ich?", fragte ich verwirrt. Was ging hier vor?

„In unserem Motel. Erkennst du es nicht?" Er legte den Kopf schief und lächelte leicht. Nun sah ich mich genauer um. Er hatte recht. Das war das Motelzimmer der Winchesters. Es war dasselbe, das sie bei ihrem letzten Aufenthalt hier bezogen hatten.

„Geht's dir gut?" Das war eine gute Frage. Ging es mir gut?

„Ich denke schon...", unsicher kratzte ich mich am Hinterkopf. Ich schlug die Decke beiseite und setzte mich auf. Die Beine ließ ich am Bettrand runterhängen. Mir war schwindlig. Ich musste mich erstmal sammeln. „Ich hatte einen ganz schrägen Traum..."

„Das war kein Traum." Seine Miene wurde ernst. Kein Traum?

„Wovon redest du?"

„Das war kein Traum. Crowley, der Dämon, der den Deal mit deinem Vater hat, hat uns diesen kleinen Trip in die Vergangenheit beschert. Und dann sind wir wie durch Zauberhand wieder hier im Motel gelandet. Du warst ganz schön lange weggetreten, über zwei Stunden. Sam holt gerade was zu essen. Ich dachte, dass du nach deinem kleinen Nickerchen vielleicht hungrig bist." Er erhob sich vom Holzstuhl und setzte sich zu mir ans Bett. Seine Augen funkelten mich besorgt an. „Kannst du dich an alles erinnern?"

Es dauerte einige Augenblicke bis ich die Erinnerungsfetzen zusammengekratzt hatte. Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Ja, ich konnte mich erinnern. An alles!

„Also, wenn du hoffst, dass ich vergessen habe, was du über mich gesagt hast, dann muss ich dich leider enttäuschen", blaffte ich ihn an und schob ihn beiseite, um aufzustehen. Er seufzte und wollte nach meinem Arm greifen, doch ich schüttelte ihn ab.

„Nicky, du musst mich verstehen! Ich wusste doch auch nicht, was ich denken sollte!", schrie er mich an und sprang hoch.

„Du hättest mir einfach vertrauen können, oder wenigstens mit mir reden! Denkst du nicht, dass ich das verdient hätte? Stattdessen unterstellst du mir, einen Deal mit diesem Crowley zu haben. Nein, du dachtest sogar, dass ich sein Flittchen bin oder sonst was!", schrie ich aufgebracht und ich spürte, wie mir Tränen die Wange hinunterrannen. Ich wusste nicht, ob ich mehr wütend oder mehr enttäuscht war. Ich musste hier raus!

„Nicky, es tut mir ehrlich leid. Was soll ich tun?"

„Einfach mal die Klappe halten!" Niedergeschlagen fuhr ich mir mit dem Handrücken über die Augen. Die andere Hand legte ich auf den Türgriff. Als ich schon halb im Freien war, drehte ich mich noch einmal um und sah ihn an. „Ich wünschte, dass ich euch nie begegnet wäre", flüsterte ich tonlos und knallte die Tür hinter mir zu. Das wünschte ich wirklich.


Ziellos streifte ich durch die Straßen. Ich wollte einfach nur hier weg. Zu meinem Motelzimmer konnte ich nicht. Zu groß war die Angst, dass Dean oder Sam dort schon auf mich warteten. Ich wollte nicht mit ihnen reden. Ich wollte mit gar keinem reden. Zumindest nicht jetzt.

Nach einiger Zeit ließ ich mich niedergeschlagen auf eine Parkbank nieder. Den Kopf vergrub ich in meinen Händen. Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich versuchte es erst gar nicht. Ich dachte an meinen Vater. Er hatte sein Leben für mich geopfert. Nun ergab alles einen Sinn. Damals, im Krankenhaus, als ich plötzlich gesund wurde, das war kein Wunder, nein, das war Crowley. Dieser anzugtragende Scheißkerl! Er hatte mir schon öfters das Leben gerettet.

Wie konnte ich nur so dumm sein und nicht erkennen, dass er ein Dämon war? Er kam immer dann, wenn ich in wirklich großen Schwierigkeiten steckte. Zum Glück war das noch nicht oft vorgekommen, aber mit dem Vorfall von eben mitgerechnet, kamen wir schon auf drei Mal. Drei Mal hatte mir dieser Mistkerl schon den Arsch gerettet. Er hielt sich im Hintergrund und ich hatte ihn nie weiter beachtet. In diesen Momenten war ich ja auch anderweitig beschäftig gewesen.

Ich war wütend. Wütend auf meinen Vater, auf Crowley und auch auf mich selbst. Meinetwegen war er tot! Nein, nicht tot, er war in der Hölle gefangen. Oh Gott, mein Vater war in der Hölle! Wer wusste schon, was er da alles durchmachen musste. Was sollte ich tun? Irgendetwas musste ich doch tun können!

Ich dachte an die Klausel, welche Crowley in den Vertrag mit meinem Vater eingearbeitet hatte. Ich konnte Crowley nicht töten, nicht mal verletzten. Aber er konnte mir auch nichts tun. So stand es im Vertrag. Keiner seiner Dämonen durfte mich auch nur anrühren. Ich musste mit Crowley reden. Aber wie? Fieberhaft dachte ich nach. Crowley tauchte immer dann auf, wenn ich kurz vor dem Abkratzen war. Somit stand die Lösung fest. Ich musste sterben.


„Du bist doch vollkommen irre! Hast du den Verstand verloren? Das machst du auf gar keinen Fall!" Sam und Dean standen mir gegenüber und schrien mich verständnislos an.

Ich hatte den Entschluss gefasst, Crowley in eine Falle zu locken. Leider musste ich mir aber eingestehen, dass ich das ohne ihre Hilfe nicht konnte. Allein schon wegen des Vertrags. Ich sprang über meinen Schatten und ging zurück zu den Brüdern. Nach einer halben Ewigkeit, in der wir uns halbwegs ausgeredet hatten und viele Tränen meinerseits geflossen waren, standen wir nun da und redeten über meinen grandiosen Plan. Naja, so grandios war er zwar nicht, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.

„Jungs, ihr könnt mir helfen oder es lassen", sprach ich ruhig und sah sie eindringlich an. Sie mussten mir ja nicht helfen, aber es wäre für alle Beteiligten sicher besser, wenn sie es taten. Auf jeden Fall wäre es für mich besser.

„Du weißt schon, dass dein Plan mehr als verrückt ist?", fragte Sam rhetorisch und schüttelte den Kopf. Ich nickte. Ja, das wusste ich auch.

„Ich habe keine andere Wahl."

„Man hat immer eine andere Wahl", stieß Dean zwischen den Zähnen hervor und fuhr sich wütend durch die Haare. Was war denn mit dem los? „Ich war in der Hölle, Nicky. Ich weiß, wie es da unten ist. Es ist kein lohnenswertes Urlaubsziel, versteht du mich? So hart das jetzt auch klingen mag, aber dein Vater ist nicht mehr dein Vater! Er ist wie lange schon tot? Drei Jahre? Nicky, er ist schon längst ein Dämon!"

Dean schrie mich an. Wieso musste er mich immer so anschreien?

„Das kannst du doch gar nicht wissen, Dean!", entgegnete ich ihm kopfschüttelnd. „Du kennst meinen Vater nicht. Er ist stark. Er würde nie..."

„Er würde nie was? Foltern? Er würde nie zu einem Dämon werden?", traurig blickte Dean mich an. Ich schluckte hart und nickte zögernd. „Ich habe es getan. Ich war vier Monate im Keller und glaub mir, du willst gar nicht wissen, zu was ich imstande war. Dein Vater ist seit drei Jahren da unten, Nicky! Verstehst du das? Wenn meine vier Monate sich in der Hölle anfühlten, wie vierzig Jahre, was glaubst du dann, bedeuten drei Jahre da unten?"

Er wandte sich von mir ab und schlug mit der Faust gegen die Wand. Immer und immer wieder hämmerte er auf die Wand ein. Ein kleines Rinnsal Blut floss bereits über seine Haut, doch er hörte nicht auf. Ich zuckte bei jedem Schlag zusammen. Ich brauchte keinen Collageabschluss, um zu begreifen, was das heißen musste.

Stumme Tränen flossen über mein Gesicht. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu verbergen oder gar wegzuwischen. Es war ohnehin egal. Alles war egal. Dean hatte recht. So gern ich ihn einfach erschießen wollte, aber er hatte recht.

Sam zog Dean von der Wand weg und drückte ihn mehr oder weniger auf das Sofa neben uns. Dean saß einfach nur da und starrte vor sich auf den Boden. Das Blut, welches über seine Haut floss und auf den Boden tropfte, schien ihm völlig egal zu sein. Er starrte einfach nur ins Leere.

Sam setzte sich neben mich und zog mich an sich heran. Ich vergrub mich in seinem Oberkörper und fing an, hemmungslos zu schluchzen. Beruhigend strich er mir über den Rücken und flüsterte mir aufmunternde Sätze zu. Leider brachte es nichts. Gar nichts.

Nicky Jones und die Jagd nach Rache ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt