08 | Schwelende Glut - Part I

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Die Welt von Distrikt vier liegt in tiefem Schlaf. Es ist mitten in der Nacht, doch wie spät genau weiß Finnick nicht. Die Morgendämmerung ist in jedem Fall noch eine Ecke weg. Neben ihm schläft Annie tief, zusammengerollt und das Kopfkissen fest im Griff. Heute Nacht scheint ihr Schlaf ruhig zu sein. Vermutlich hat die Aufregung am heutigen Tag sie zur Genüge erschöpft, um ihre Gedanken wenigstens für den Moment abzulenken.

Er ist froh darüber, denn wann immer er das Glück hat, sie in einem ihrer friedlichen Momente zu sehen, wenn sie scheinbar die Welt um sich herum vergisst, dann glaubt er fast, dass sie so etwas wie Freiheit haben. Diese Stunden, in denen sie so losgelöst von allem Elend ist, sind rar. Am liebsten würde er jede einzelne davon für immer in seinem Herzen festhalten. Doch das Kapitol sorgt schon dafür, dass er es sich nicht zu bequem macht. Sie erinnern ihn jedes Jahr wieder, dass er nicht sich selbst gehört.

Mit jedem Jahr schüren sie damit die Wut in seinem Herzen. Wo einst Angst regierte, ist nur noch Hass auf das Kapitol geblieben. Er fürchtet sich nicht mehr. Spätestens Annies Spiele haben seine Welt verändert. Zu sehen, wie das Kapitol ein gutmütiges Mädchen wie Annie langsam aber sicher zerstörte, ihre Seele für ein wenig Fernsehunterhaltung vergiftete, das hat seinen Entschluss, sich zu widersetzen, reifen lassen. Angefangen hat es schon während seinen eigenen Spielen, als er erkannte, dass es keinen Ruhm und keine Ehre in den Hungerspielen gab. Jedes weitere Jahr hatte das kleine Feuer in seiner Brust genähert. Bis Annie kam und aus der Flamme ein Inferno machte, ohne, dass sie es wusste.

Genau diese Entschlossenheit ist es nun, die ihn aus dem Bett treibt. Er steht auf, nicht ohne vorher die Decke sanft über Annie zu breiten. Die Nacht ist bereits frisch und kündigt vom nahenden Herbst. Leise entzündet er eine der unzähligen Kerzen und tritt hinaus in den heruntergekommen Flur.
An sich herab schälender Tapete vorbei, geht er zurück in die gewaltige Eingangshalle. Staubwölkchen steigen auf, als er auf die Treppe zum oberen Geschoss tritt. Mottenzerfressener Samt, früher wohl einmal dunkelrot, dämpft seine Schritte.

Im Obergeschoss liegt sein wohlbehütetes Geheimnis – so gut geschützt, dass nicht einmal Annie etwas davon weiß. Und sie weiß sonst alles. Ja, selbst den Verkauf seines Körpers und seiner vermeintlichen Zuneigung im Kapitol kann und will er nicht vor ihr verbergen. Es wäre ihr gegenüber nicht fair.
Außerdem ist sie aufmerksam und beobachtet die Welt um sich herum immerzu. Sie weiß, was vor sich geht, auch ohne offen über Dinge zu sprechen. Manches verdrängt sie vielleicht, um sich das Leben etwas erträglicher zu machen, aber tun sie das nicht alle? An manchen Tagen sind es die Notlügen, die einen vor dem Abgrund des Wahnsinns bewahren.

Nur von dem Zimmer im zweiten Stock, vor dessen Tür er jetzt steht, davon ahnt sie nichts. Das hoffnungslos veraltete Kommunikationsportal in dem verwaisten Arbeitszimmer ist ganz alleine sein Geheimnis.
Er fühlt sich schuldig dabei etwas vor ihr zu verbergen, doch er redet sich immer wieder ein, dass es nur zu ihrem Besten ist. Was der Gedanke an Rebellion in ihr auslösen könnte kann er nicht abschätzen.
Nein, es ist sicherer wenn sie nichts davon weiß. Noch nicht, sagt er sich. Solange sich die Hoffnung auf Rebellion nur in kleinen Kreisen dreht, lohnt es sich nicht, sie mit hereinzuziehen. Zu groß wäre die Gefahr, dass das Kapitol es eines Tages gegen sie verwenden könnte. Aus Liebe das Richtige zu tun ist nicht immer einfach, das merkt er jetzt wieder. 

Die Tür zum Arbeitszimmer ist nur angelehnt. Er schlüpft hindurch und schließt die Tür mit einem leisen Klicken. Vor ihm liegt ein großer Raum mit hohen Bücherregalen und einem eindrucksvollen Schreibtisch. Da das Haus noch aus der Zeit vor den dunklen Tagen stammt, ist seine Einrichtung dementsprechend altmodisch. Das Kommunikationsportal bildet da keine Ausnahme.
Es ist ein klotziger alter Kasten, der im Kapitol nichts als Naserümpfen ernten würde. Aktivieren lässt er sich nur mit einer kleinen Schlüsselkarte, die Finnick mit sich trägt. Er schiebt sie in einen Schlitz an der Seite und das Gerät erwacht mit einem statischen Summen zum Leben.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt