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Earl nickt mir auffordernd zu. Milas Lippen sind zu einem zuckersüßem Lächeln verzogen. Ihre Finger tippen abwartend auf dem Stoff ihrer abgewetzten Jeans herum.

"Okay", erwidere ich. Ich muss sie überzeugen. Und wenn der Preis dafür ist, meine Geschichte zu erzählen, dann mache ich das. Ich räuspere mich. Atme ein und wieder aus, halte den Blick gesenkt und beginne. Den ersten Teil halte ich genau so, wie ich ihn Earl erzählt habe. Teilweise wortgetreu berichte ich von Haldan und der Abwärtsspirale, in die ich hineingezogen wurde.

"Ich habe meinen Schulabschluss nachgeholt, dabei zwei Jahre in einem Motel gelebt und bin dann hier her gezogen, als ich die Collegezusage hatte. Ich habe mir einen Job gesucht. In einer Bar, weil ich mich nicht mein Leben lang Orte dieser Art meiden wollte und habe mich damit irgendwie selbst ins kalte Wasser geschubst. Meistens hat es ganz gut funktioniert. Die Leute waren alle total entspannt und meine Freunde vom College sind öfter vorbei gekommen.

Ich habe zwar Mal etwas paranoid reagiert, als ich das Gefühl hatte, das zwei Typen mich verfolgen, aber ansonsten verliefen die letzten zwei Jahre fast problemlos. Es gab da nur diese eine Semester Einführngsparty. Meine erste. Auf der ich etwas die Kontrolle verloren habe. Und auch sonst hat mich dieser Hang zum Alkohol und zu Pillen nie ganz los gelassen. In der Zeit mit Haldan, in diesen zwei Jahren, waren sie meine Lösung für alles. Das hat sich so in mir festgesetzt, dass ein Teil von mir jetzt, obwohl diese Zeit vier Jahre her ist, immer noch davon überzeugt bin.

Auf dem Collage fällt das nicht auf. Da haben gefühlt alle ein Alkoholproblem." Ich lächle traurig und schüttle den Kopf, um meine Gedanken zurück auf mich zu richten. "Naja, da war ein Typ. Er war nicht unbedingt ein Dealer, aber er hatte auf Partys immer was dabei. Man kann nicht sagen, dass ich in alte Muster verfallen bin, denn ich hatte sie ja noch gar nicht abgelegt. An einem Abend habe ich ihn vor allen abgewiesen. Er hat mich geküsst und ich habe ihn abgeblockt. Ich hatte schon davor was genommen, war dafür aber immer noch klar genug.

Danach erinnere ich mich nur noch schemenhaft daran, wie ich planlos durch das Haus gelaufen bin. Irgendwann bin ich mit ihm in einem Zimmer gelandet. Ich habe gar nichts mehr empfunden. Ich konnte überhaupt nicht denken. Ich wusste, was geschieht, aber ich konnte es nicht zuordnen oder reagieren. Ich weiß immer noch nicht, wie weit er gekommen ist, bevor er aufgehalten wurde.

Ich bin in eine Schockstarre gefallen oder vielleicht war ich das vorher schon. Er hat mich Hure genannt und das war schlussendlich der Auslöser für meine Panikattacke. Ausgerechnet dieses eine Wort, das mich schlimmer trifft, als jedes andere. Ich hatte schon immer Probleme mit meiner Angst umzugehen. Das wurde schon mit zehn bei meinem ersten Aufenthalt in einem Kinderheim diagnostiziert. Dinge, die für andere nichts bedeuten, können in mir so schwere Angstanfälle auslösen, das ich mich nicht bewegen kann. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Die Erwartungsangst vor einem nächsten Anfall lässt mich oft zurückschrecken, sie sorgt dafür, dass ich Dinge nicht tue. Die Sorge, was andere über mich sagen könnten, wenn sie es mitkriegen und die brennende Scham, die ich schon mein ganzes Leben ertragen musste, finden in solchen Moment ihren absoluten Höhepunkt.

In dieser Nacht haben es alle mitgekriegt. Meine Freunde, Cole und wahrscheinlich auch andere, die noch auf der Party waren. Nur wenige Stunden später habe ich meine Sachen gepackt und bin weggelaufen Weil es für mich der einzige Ausweg war." Ein kurzer Seitenblick zu Mila verrät mir, das sie mit verschlossener Miene auf ihrem Stuhl kauert.

"Bis heute habe ich mein Handy nicht wieder angeschaltet. Ich will die Wahrheit darüber, was in dieser Nacht alles geschehen ist, einfach nicht hören. Ich will ihr Mitleid, ihre sorgenvollen Mienen und ihre Bevormundung nicht. Sie denken ich bin bei meiner Familie, denn sie wissen nicht, dass ich keine habe."

"Ich weiß nicht, ob ich eine Alkoholerin bin, tablettenabhängig oder einfach nur verdammt verkorkst." Ich seufze und sehe auf meine Hände, die locker in meinem Schoß liegen. "Naja, das wars. Danke fürs Zuhören", murmle ich leise und lasse mich zurück in meinen Stuhl sinken. "Danke für deine Ehrlichkeit." In Milas Augen liegt ein zufriedener Schimmer. Miranda nickt mir anerkennend zu und beginnt zu klatschen. Earl lächelt wohlwollend und stimmt wie die Anderen auch in den Applaus mit ein. Erst jetzt begreife ich, was dieser Applaus bedeutet. Es ist kein danke-dass du-es-uns-erzählt-hast. Es ist ein wir-bewundern-dich-für-deinen-Mut-Applaus. Ich schwelge in diesem Lob und erlaube einem weiteren Teil von mir zu heilen.

Am Abend schnappe ich mir mein Notizbuch und schreibe den nächsten Satz auf die erste Seite.

Ich habe mich selbst sabutiert und das ist mir erst vorhin klar geworden. Ich wollte nicht akzeptiert werden. Ich hatte das Gefühl, dass ich es verdient habe, alleine zu sein.

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Drittes und letztes Kapitel. Danke, dass ihr dabei wart und fürs Lesen ❤️

Never Falling Deeper | AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt