Kapitel 2 - Der Streit

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Schon bevor Andreas den Tourbus erreicht hatte, war ihm klar, dass Chris bis zum bitteren Ende leugnen würde wie schlecht es ihm ging.

Zumindest so lange, bis sie den Auftritt heute Abend zu Ende gebracht hatten.

Aufgrund seiner eher zurückhaltenden Art wurde Chris oft für einen Schwächling gehalten, aber das war natürlich totaler Quatsch. Niemand wusste das besser als Andreas. Bisher war Chris immer für die Shows bis an seine körperlichen Grenzen gegangen und oft sogar darüber hinaus. Er war ein Kämpfer, jemand der niemals leichtfertig aufgab, und Andreas ahnte schon wie schwierig es werden würde Chris davon zu überzeugen, seine eigene Gesundheit ausnahmsweise mal vor die Arbeit zu stellen.

Ohne zu klopfen, stieg Andreas in den Bus und ging die schmalen Treppen hinauf auf das Deck, welches sie während der Tour als Wohn-und Schlafzimmer nutzten. Im hinteren Bereich gab es eine kleine Badenische für das bisschen Privatsphäre, das ihnen während einer Tour zur Verfügung stand. Die Schiebetür zum Bad war zugezogen, doch sie tat wenig um die Geräusche abzudämpfen, die vom Bad nach draußen drangen. Andreas verzog das Gesicht, als er hörte wie Chris sich in die Toilette übergab. 

Unter anderen Umständen, hätte er an dieser Stelle irgendeinen dummen Spruch geklopft, um seinen Bruder aufzuziehen. Doch diesmal empfand er nichts als Sorge.

„Chris, mach auf." Andreas klopfte gegen die dünne Türe. „Komm schon."

„Was willst du?" Chris schob widerwillig die Tür zum Badezimmer auf, eine nasse Zahnbürste in der Hand. Er griff nach dem Deo um damit den Gestank von Erbrochenem zu kaschieren.

Andreas schnappte ihm das Deo aus der Hand und warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Bist du bescheuert? Wenn du mit dem Ding da sprühst, hängst du in spätestens zehn Sekunden an der Schüssel für 'ne zweite Runde. Außerdem is es ja nicht so als hätte ich dich nicht gehört."

Chris drehte sich um und spülte nochmal seinen Mund aus bevor er die Zahnbürste in den Köcher zurücksteckte. „Is nicht so schlimm. Vermutlich hab ich nur was Schlechtes gegessen."

„Ach ja und was, bitte? Du isst ja schon seit Tagen kaum noch was." Andreas ließ das Deo mit einem metallischen Knall in das Waschbecken plumpsen und griff nach dem Unterarm seines Bruders. Er zog ihn aus dem Badezimmer und auf eines ihrer beiden Betten zu. „Los, setz dich. Du kannst ja kaum noch geradestehen."

Chris schüttelte ihn ab. „Mensch, es ist halb so wild. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass es mir gut geh—"

„Jetzt hör schon auf. Mir kannst du nichts vormachen", unterbrach ihn Andreas und packte ihn an den Schultern. Geschwächt, ließ Chris sich schließlich von seinem Bruder in eine sitzende Position an den Bettrand manövrieren. „Also raus mit der Sprache. Womit haben wir es hier zu tun? Kopfschmerzen? Ohrenstechen? Mandelentzündung?" 

Chris zuckte mit den Achseln, was so gut wie ein Eingeständnis in Andreas' langjähriger Erfahrung als großer Bruder und Vater von drei Kindern war. Er runzelte besorgt die Stirn. "Na schön. Hast du was genommen?" 

„Gestern", gab Chris zu. „Zwei Aspirin. Hab nichts Stärkeres gefunden."

Andreas legte seine Hand auf die Stirn seines Bruders und spürte wie das Herz in seiner Brust sank. „Man, du glühst ja richtig. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du Fieber hast?"

Chris zuckte mit den Schultern. „Ich dachte es würde besser werden."

Andreas wischte sich mit der Hand über das Gesicht und starrte fassungslos an die Decke des Tour Busses. Gedanklich ging er bereits das Streitgespräch durch, dass er unweigerlich mit ihrem Manager führen müsste. Max würde nicht glücklich darüber sein, dass sie so kurzfristig eine ganze Show absagen mussten. Das würde bestimmt für negative Schlagzeilen sorgen, ganz zu schweigen von den Tausenden enttäuschten Fans, die es irgendwie zu besänftigen galt.

Chris musste Andreas' Gedanken gelesen haben, denn seine Miene verfinsterte sich schlagartig. „Mach jetzt kein Drama draus, okay? Es ist doch nur eine bescheuerte Sommergrippe."

„Du hast Fieber, du Idiot", erwiderte Andreas. „Wenn du so auf die Bühne gehst, brichst du vor vierzigtausend Menschen live zusammen. Und das wäre dann echt ein Drama, und zwar eins das wir uns besser sparen."

„Es ist die letzte Show," sagte Chris. "Sie so kurzfristig abzusagen können wir nicht bringen."

„Sowas passiert eben. Wir holen die Show an einem anderen Tag nach und damit basta."

„Nein! Die Fans haben schon gezahlt und sich auf heute Abend gefreut, wir können sie doch nicht einfach so im Stich lassen. Das ist nicht nur deine Entscheidung."

„Chris, ich diskutiere da gar nicht länger mit dir rum. Ich bin der ältere und ich—"

„Scheiß drauf, wer von uns älter ist. Ich bin kein kleines Kind mehr, Andreas. Hör auf so zu tun als wüsstest du immer alles besser!"

Andreas schluckte. Er wandte den Blick von Chris ab, das Kiefer angespannt mit all den Worten die er krampfhaft zurückhalten musste. Wenn er seinen Bruder jetzt ansah, würde er ihm vermutlich Dinge an den Kopf werfen, die ihn verletzen würden. So wie die Tatsache, dass Andreas sehr wohl derjenige von ihnen war, der oft die Entscheidungen traf, weil Chris nicht so gut mit Druck umgehen konnte. Andreas war der, der in Interviews und bei Shows oft die Führung übernahm, weil es ihnen beiden besser so passte. Er war der, der mit den Managern sprach, wenn es Probleme gab und der der Crew den Marsch blasen musste, wenn etwas nicht ablief wie geplant. Er war der, der neue Illusionen absegnete und Verträge unterschrieb und ganz nebenbei noch eine ganze Familie zu unterhalten und ernähren hatte. Eine Familie, die er ganz nebenbei gesagt, viel zu selten sah, weil er hier war, hier in diesem Scheiß Bus, 300 km von Bünde entfernt mit einem kleinen Bruder, der ihn anscheinend plötzlich nicht mehr ‚brauchte'.

„Na schön, mach doch was du willst. Aber komm nicht angelaufen und heul mich voll, wenn du da draußen vor tausenden Fans von der Bühne fällst!"

Verärgert verließ Andreas den Bus und knallte am Weg nach draußen die Tür zu. 

Anders Als Man DenktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt