Teil 38 - Sinnlose Debatten?

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Eine erdrückende Stille hing in der Luft und obwohl der Vorraum zur Wohnung klimatisiert war, fiel YN das Atmen schwer. Sie schluckte ihren Kloß im Hals herunter, bevor sie das Wort ergriff, um das peinliche Schweigen zu durchbrechen. "Sehr... sehr angenehm, Mr. Lucilfer. Ich bin YN."

"Nenn mich doch bitte 'Chrollo', YN." Sein ausdrucksloser und doch bohrender Blick schüchterte sie ein und dass er sie mit ihrem Namen angesprochen hatte, förderte nicht ihr Wohlbefinden. Seine Ausstrahlung war zwar nicht beängstigend, aber das mulmig Gefühl, welches sie durchströmte, konnte sie nicht ablegen.
Am liebsten hätte sie sich hinter Hisoka versteckt oder dieses Aufeinandertreffen vermieden. Dasselbe schien auch Hisoka durch den Kopf zu gehen, denn seine verärgerte Miene war deutlich abzulesen; seine verstimmte Haltung rührte jedoch nicht von Ehrfurcht her, dessen war sich YN sicher.

"Du musst wissen, unser Chef ist ein wahrer Kavalier auf dem Gebiet. Er wickelt sie alle um den Finger", stichelte Hisoka und wechselte einen angriffslustigen Blick zwischen seinem Chef und seiner Liebsten.
Dass er versuchte Chrollo zu provozieren, war offensichtlich und genau dieses Verhalten empörte YN. Sie konnte nicht verstehen, warum Hisoka so unüberlegte Dinge sagte und so leichtfertig handelte. Zu ihrem Erstaunen ließ Chrollo sich davon jedoch nicht beeindrucken und ignorierte gekonnt die Äußerung.

Wären sie alleine gewesen, hätte YN ihren Freund gefragt, was er mit seinem Verhalten bezwecken wollte. Dass eine Spannung zwischen ihm und Chrollo lag war unverkennbar und sie konnte nicht nachvollziehen, warum Hisoka sich dermaßen trotzig verhielt. Er machte die Anstalt zu gehen, als Chrollo sein Kinn hob. "Wir sollten aufbrechen. Ich werde", sein Blick wanderte von Hisokas Scheitel bis zu den Zehenspitzen, "solange warten."
Beiläufig holte er sein Buch hervor und setzte sich wieder in den Ledersessel, in dem er gesessen hatte, als Hisoka und YN angekommen waren. Auf Chrollos Gesicht war ein Ausdruck getreten, als ob er Vergnügen an der Situation fand, denn seine Mundwinkel waren sichtbar hoch gezogen.

"Gib mir zehn Minuten", gab Hisoka zähneknirschend von sich, ehe er YNs Handgelenk ergriff und sie in seine Wohnung  mitschleifte. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, hob er seinen Finger, um diese mit einer Schicht Bungee Gum abzudichten. Sein zuvor finsterer Blick entspannte sich ein wenig.

"Entschuldige bitte meine Reaktion, aber Chrollo ist gefährlich. Ich will nicht, dass du in seiner Nähe bist."

"Warum provozierst du ihn noch absichtlich, wenn er so gefährlich ist?"

Keine Antwort. Hisoka hatte den Kopf schief gelegt und fixierte YN, die erschüttert im Wohnzimmer stand und sich verloren fühlte.

"Seine ruhige Art ist beklemmend, er wirkt, als könnte er jeden Moment die Fassung verlieren. Provoziere niemals einen Mann, der gefasst wirkt."

Sein Schweigen trieb sie zur Weißglut. Warum redete Hisoka nicht? Jetzt war YN, die provokativ fragte: "Chrollo und Kaito sind Brüder, wusstest du das?"

Dieses Mal zuckte er wenigstens mit den Schultern. "War das wichtig?" Seine Ausrede, wenn man es denn so nennen konnte, war erbärmlich. Es machte sie rasend, dass er ihr wertvolle und nicht ganz unwichtige Informationen vorenthielt. Hisoka warnte sie vor seinem Chef, verschwieg aber dieses kleine, eventuell wichtige Detail?

"Irgendetwas steht doch zwischen euch, ich merke das doch." YNs Stimme wurde unbeabsichtigt lauter, sie ertrug seine spärlichen Bröckchen an Informationen, die sie ihm aus der Nase zog, nicht.

"Ich will gegen Chrollo kämpfen! Das ist mein größter Wunsch!" Eine ungeahnte Mordlust breitete sich ohne Vorwarnung über Hisoka und ergriff von ihm Besitz. Seine Augen weiteten sich und die Pupillen starrten bizarr zur Tür und förmlich durch sie hindurch. Er schien die Kontrolle über sein Gesicht verloren zu haben und war wie unter Hypnose.
Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht.

Sein größter Wunsch?

"Kämpfen ist hier mit 'töten' gleichzusetzen, habe ich Recht? Das ist doch irre!" Ihr Tonfall wurde eisig. Sie hatte keine Lust mehr auf diese Unterhaltung.
Hisokas Schweigen bestätigte ihre Annahme und Tränen des Zorns ließen ihre Sicht verschwimmen, hastig blinzelte YN sie weg und wandte ihren Blick beleidigt ab.

Warum geht es ihm so sehr ums Kämpfen? Es kann ihm doch nicht so wichtig sein, dass er...

Ruhig aber bestimmt betrachtete er seine Freundin, jegliche Emotion war von ihm gewichen. "Das ist meine Sache. Ich sage dir nur, dass du dich von ihm fern halten wirst."

Ein stechendes Gefühl durchfuhr YN. Sie überkam der Eindruck, dass Hisoka über sie hinweg bestimmte und sie dahingehend bevormundete, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Sie fühlte sich wie ein Kind, welches keine eigenen Entscheidungen treffen konnte, oder noch schlimmer, wie jemand, dem man es nicht zutraute, selbstständige Entscheidungen treffen zu können. Auch wenn sie ein zurückhaltender Mensch war, verärgerte sie die Tatsache, dass er ihr solche Vorschriften machte, denn ihrer Ansicht nach unterschätzte er sie gewaltig.

"Ich denke, ich kann das gut selbst entscheiden", sagte sie bissiger als beabsichtigt. YN wollte ihn nicht mit ihrem Inneren konfrontieren, aber sie fühlte sich zu Unrecht in Watte gepackt. "Ich entscheide selbst, mit wem ich rede und was ich mache."

Hisoka hob eine Augenbraue. Aus seinem neutralen Gesichtsausdruck konnte YN nichts lesen und so stolzierte sie zum Sofa und setzte sich mit verschränkten Armen hin.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, eilte Hisoka ins Schlafzimmer.

Wahrscheinlich zieht er sich jetzt um. Soll er das doch tun!

Keine zwei Minuten später erschien er in seiner Montur und setzte sich neben YN auf die Couch. "Ist das ein Streit?", fragte er direkt heraus. "Was habe ich denn Falsches gesagt?"

"Du merkst es nicht, oder?" Fragen hob sie ihre Hand und schaute ihn ungläubig an. "Ich kann das nicht ausstehen, wenn man mir vorschreibt, was ich tun soll. Vielleicht übertreibe ich, aber ich bin keine fünf Jahre alt."

Sie nahm eines der Sofakissen und drückte es wie einen Schild an sich. Sie hatte das Bedürfnis, ihre Hände zu beschäftigen, gleichzeitig konnte sie ihm nicht dabei in die Augen sehen, denn sie wusste, dass sie einknicken würde. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, kannte sie den Grund für ihre schlechte Laune nicht. War es wirklich die Tatsache, dass Hisoka sie vor dem Umgang mit Chrollo gewarnt hatte? Wahrscheinlich, und das musste sie zugeben, machte er sich schlichtweg Sorgen, was im Grunde süß von ihm war.
Oder war es, dass er immer plötzlich und unvorhergesehen einen Auftrag hatte und sie alleine ließ? Er hatte ihr zwar grob erklärt, um was für Missionen es sich handelte, aber die entscheidenden Details hatte er verschwiegen. Auch hier war es wahrscheinlich, dass er sie damit schützen wollte.
Doch damit gab er ihr das Gefühl, dass er ihr nicht vertraute.

Vertraut er mir nicht? Glaubt es, ich würde es nicht begreifen? Ich habe schon verstanden, dass seine Arbeit nicht ganz legal und nicht ganz ungefährlich ist.

Ein schlechtes Gewissen überkam sie und sie zerdrückte beinahe das Kissen zwischen ihren Händen. Ihr Blut pulsiert in einem unnormalen Tempo durch ihren Körper, dass ihr jeden Moment schlecht werden könnte. Erst jetzt merkte sie, was sie wirklich bedrückte. Es war eine schleichende Angst - die Angst, ihn zu verlieren und die Angst, dass er eines Tages nicht mehr zurückkehren würde.

"Ich will dich nicht verlieren", flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu Hisoka und eine einzelne heiße Träne rann über ihre Wange; sie suchte seine Nähe, doch er war bereits hinausgetreten, entschlossen seinen Auftrag auszuführen.

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