Kapitel 4 - Das Wortgefecht

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Andreas wollte gerade zum Bus zurück um nach Chris zu sehen, als ihm jemand aus der Crew entgegengelaufen kam. Es war einer von den Neuen, so ein junger Typ mit Pferdeschwanz. 

Er sah aufgebracht aus. 

„Hey, wir brauchen mal kurz deinen Bruder. Es gibt Schwierigkeiten mit der Pyro und Peter hat gesagt—"

„Mein Bruder fühlt sich nicht wohl," unterbrach ihn Andreas. „Vielleicht kann ich ja—"

„Ich mach das schon", unterbrach ihn plötzlich eine vertraute Stimme.

Andreas und der Typ aus der Pyro drehten sich erschrocken um und Andreas' Herz machte einen Sprung in seiner Brust. Chris hatte es irgendwie geschafft in den zehn Minuten, in denen Andreas telefonierte sogar noch schlechter auszusehen als zuvor. Seine Haut war kreidebleich und die Stirn mit Schweißperlen bedeckt. Seine Haare fielen ihm leblos ins Gesicht und er stützte sich im Türrahmen des Busses ab, so als wäre das das einzige, das ihn noch aufrecht hielt. Andreas schluckte. Wenn er sich nicht ohnehin schon Sorgen gemacht hatte, wäre er spätestens jetzt in den absoluten Papa-Bär-Modus gekippt.

"Worum gehts denn?" wollte Chris wissen. Da war ein bisschen etwas von dem alten Chris, das aus der blassen, krank-aussehenden Hülle hervorblickte.  "Macht euch der Airburst wieder Probleme?"

Der junge Typ aus der Bühnentechnik nickte aufgebracht. "Ja genau, eines von den Abschussrohren scheint was zu haben. Peter meinte du würdest das schon machen."

„Chris macht jetzt erstmal gar nichts", sagte Andreas bestimmt und ging zwischen die beiden. Er drehte sich zu dem Mitglied der Crew um. „Sag den anderen mein Bruder ruht sich vor der Show noch ein wenig aus. Ich komme in ein paar Minuten und sehe mir das mit euch an, okay?"

Etwas verwirrt, nickte der Typ und lief dann zurück in den Bühnenbereich, wo alle bereits tüchtig mit dem Aufbau für die Show beschäftigt waren. Kaum war er außer Hörweite, kam die Standpauke von Chris.

„Sag mal, bist du jetzt komplett durchgeknallt? Ich kann für mich allein sprechen. Ich hab dir doch vorher schon gesagt—"

„Dass du mich nicht brauchst um deine Entscheidungen zu treffen", vervollständigte Andreas für ihn. „Und trotzdem willst du in deinem Zustand bei der Pyro helfen. Sorry, wenn ich es für keine gute Idee halte, dich mit Flammenwerfern herumbasteln zu lassen wenn du kaum noch gerade stehen kannst."

„Ich mach das ja nicht zum ersten Mal", erwiderte Chris scharf. "Das ist mein Job, schon vergessen?"

„Nein, das ist deren Job. Wir haben Leute für sowas", sagte Andreas im Versuch an Chris' Vernunft zu appellieren. „Wir bezahlen die dafür, dass sie mit solchen Problemen alleine klarkommen. Also sieh zu, dass du deinen Arsch in den Bus bewegst und versuch noch 'ne Runde zu schlafen bevor die Show losgeht. Wenn du das heute Abend wirklich durchziehen willst, musst du deine Kräfte schonen. Sonst passiert am Ende wirklich noch was."

„Was soll denn passieren?"

"Deine Haare könnten zum Beispiel wieder Feuer fangen," witzelte Andreas, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. Doch als Chris ihn nur sauer anfunkelte, stieß Andreas ein leises Seufzen au. "Ey, keine Ahnung, Mensch. Es muss nur einer von uns kurz abgelenkt sein oder einen Meter zu weit rechts auf der Bühne stehen und—" 

„Traust du mir etwa nicht?" fragte Chris unglaubwürdig.

„In deinem Zustand trau ich dir nicht einmal selbstständig dein Bett zu finden", gab Andreas scharf zurück. Allmählich riss ihm wirklich der Geduldsfaden. „Also nein, wenn du es unbedingt schriftlich von mir brauchst, mit Fieber und bis zum Rand voll mit Schmerzmitteln würd ich mein Leben heut Abend lieber nicht in deine Hände legen."

Andreas bereute die Worte, sobald sie seine Lippen verließen. Vertrauen war zwischen Ihnen nie Thema gewesen. Es war einer der unzähligen Vorteile mit seinem eigenem Fleisch und Blut zu arbeiten. Es gab einfach niemanden dem Andreas so voll und ganz mit seinem Leben vertraute wie Chris. Aber mit einem geschwächten Urteilsvermögen konnten jedem Fehler passieren.

„Na schön", presste Chris zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Vielleicht sollten wir dann nicht mehr zusammenarbeiten, wenn du dich so unsicher mit mir fühlst."

„Jetzt komm." Andreas verdrehte die Augen. „Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe."

„Ich weiß schön langsam gar nichts mehr", spuckte Chris aus und löste sich aus dem Türstock. 

Er marschierte an Andreas vorbei, nur um von dem am Arm gepackt zu werden. „Hey, jetzt warte doch mal, so war das doch gar nicht gemeint—"

„Lass los!", fauchte Chris ihn an und löste sich mit einem starken Ruck aus Andreas' Berührung. Durch den Schwung stolperte er über seine eigenen Füße. Andreas schnellte blitzartig nach vorne, um ihn beim Pulli zu packen, aber Chris schlug um sich, um ihn abzuwehren. Er schaffte es auch ohne Andreas' Hilfe wieder die Balance zurückzugewinnen und stand dann da, völlig aufgelöst und außer Atem. Seine Augen waren weit und bis zum Rand mit Tränen gefüllt. 

Ohne darüber nachzudenken, machte Andreas einen Schritt auf Chris zu. „Hey, beruhig dich erstmal und lass uns—"

„Verpiss dich einfach", stieß Chris hervor und wischte sich wütend mit dem Ärmel seines Pullovers die Tränen aus dem Gesicht. Er schwankte ein wenig, so als wäre er betrunken und erneut wollte Andreas einen Schritt auf ihn zu machen, doch Chris gab ihm einen Stoß, der ihn zurückstolpernd ließ. "Komm mir bloß nicht hinterher!"

Er lief in Richtung Bühne an Andreas vorbei, ohne zurückzuschauen.

Anders Als Man DenktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt