„Andreas, er ist bewusstlos. Wir haben einen Krankenwagen gerufen. Die sollten gleich da sein."
„Chris—"
Es war fast so als könnte er die anderen gar nicht hören, so als wären sie alle ganz weit weg und würden unter Wasser sprechen. Ihre Stimmen waren allgegenwärtig und hüllten ihn ein, aber er verstand trotzdem kein Wort von dem was sie sagten.
Chris' Gesicht war zu ihm gewandt, die Züge völlig ausdruckslos, die Lippen leicht geöffnet so als hätte er noch etwas rufen wollen bevor er in die Tiefe gestürzt war. Er hatte eine Platzwunde am Kopf, direkt am Haaransatz und dunkelrotes Blut lief ihm die Schläfen hinunter.
Andreas ließ seine Hand von Chris Schulter zu seinem Gesicht wandern und strich ihm mit zittrigen Fingern über die Wange.
„K-kleiner?" seine Stimme brach erneut und eine Träne kullerte über sein Gesicht. Er hatte Chris noch nie so still gesehen. Sogar im Schlaf war Chris immerzu in Bewegung, rekelte sich und rollte von einer Seite auf die andere um eine bequeme Position zu finden.
Wenn Chris ihn jetzt dabei gehört hätte, wie er vor versammelter Mannschaft ‚Kleiner' zu ihm sagte, hätte er ihm das wahrscheinlich die Hölle heiß gemacht. Aber Chris lag einfach nur da, so regungslos und blass.
Andreas schüttelte verzweifelt den Kopf. Seine Brust schnürte sich immer weiter zu mit jeder Sekunde, die verging. „Tu mir das jetzt nicht an, okay? Das kannst du mir doch nicht antun!"
„—eas? Andreas, geh aus dem Weg, komm." Jemand zog an seinem Arm und Andreas versuchte die ungewollte Hand abzuschütteln, doch dann rückte plötzlich jemand von der Seite aus in sein Blickfeld. „Andi. Die Sanitäter müssen durch, okay? Du musst Platz für sie machen, sonst können sie Chris nicht helfen."
„Wie ist ihr Name? Können Sie mich hören?" wollte ein Fremder von Andreas wissen. Der Mann war jung, vermutlich um die zwanzig und hatte sich irgendwie zwischen Andreas und Chris geschoben. Andreas versuchte ihn zur Seite zu schieben. Er musste zu seinem Bruder. Sein kleiner Bruder brauchte ihn jetzt. Doch der Fremde ließ einfach nicht locker. „Hey, immer mit der Ruhe. Die Kollegen kümmern sich um Ihren Freund, okay?"
„CHRIS!" Andreas wehrte sich mit aller Kraft, bis immer mehr Arme von der Seite aus auf ihn zuschossen, bis immer mehr Stimmen auf ihn einredeten, darunter eine vertraute, männliche Stimme die nah genug an seinem Ohr war, um ihn einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. „Die wollen ihm nur helfen, Andi. Lass sie arbeiten, okay? Lass sie ihre Arbeit machen und ihm helfen."
Verzweifelt, hörte Andreas auf sich zu wehren und die Sanitäter gingen ans Werk als er kraftlos in die Arme seiner Freunde sackte.
Durch einen Schleier von Tränen beobachtete Andreas wie die Sanitäter zu Werk gingen. Wie sie Chris' Puls checkten, ihn in die stabile Seitenlage brachten und medizinische Begriffe miteinander austauschten, die sich anhörten wie eine Fremdsprache.
Schließlich kamen ein paar Männer mit einer Trage und die Crew stolperte rasch aus dem Weg um mehr Platz zu schaffen. Zu dritt hoben sie Chris auf die Trage und fixierten ihn und erst dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, war Andreas in der Lage sich wieder zu bewegen. Er löste sich aus Peters Umklammerung und stand auf zittrigen Beinen auf um den Sanitätern mit der Trage zu folgen, doch wieder stellte sich ihm jemand in den Weg.
„Wir werden ihn jetzt ins Krankenhaus bringen, Herr—"
„Reinelt," stieß er lethargisch hervor.
„Und der Patient ist ihr—"
„Bruder," ergänzte er matt. „Chris Reinelt. Kann ich mitkommen?"
„Ja, das dürfte kein Problem sein. Sie können mit ihm sprechen, aber versuchen Sie ihn während der Fahrt nicht zu bewegen. Einer der Kollegen wird hinten mitfahren."
Andreas folgte den Sanitätern zum Parkplatz, wo sie Chris in den hinteren Teil des Krankenwagens einluden. Andreas duckte sich und stieg hinterher.
Ein kleiner Sitzplatz neben der Trage war frei und Andreas nahm Platz und schnallte sich an ohne den Sanitätern oder den besorgten Crew Mitgliedern irgendeine Achtung zu schenken.
Seine Augen waren unweigerlich auf Chris gerichtet, auf das Blut, das nun auf seiner Haut eingetrocknet war und die unnatürliche Totenblässe seiner Haut.
Er legte seine Hand auf die von Chris und umschloss die kalten Finger seines Bruders.
„Andreas!" schrie ihm eine Frauenstimme hinterher. Es war Babsi, eine der Ton-Technikerinnen. Sie kletterte in den Krankenwagen und hielt ihm ein Handy entgegen. „Hier. Nimm das. Wir kümmern uns um die Show und um die Presse. Und ruf uns an wenn du weißt wie es ihm geht, okay?" Andreas blinzelte nur, nicht wissend was er ihr antworten sollte.
Mechanisch nahm er das Handy und nickte.
Dann fiel sie ihm um den Hals. „Hey, das wird schon wieder. Bitte melde dich, wenn du was weißt okay?"
„Okay," sagte Andreas starr, in der Hoffnung, dass sie von ihm ablassen würde. Es war einfach alles zu viel. Die ganzen Menschen, der Lärm, die Kälte von Chris' Fingern als sie leblos in seiner Hand lagen. Er wusste ja noch nicht einmal genau was passiert war.
Irgendwas musste mit der Pyro schiefgegangen sein. Womöglich war ein Feuerwerkskörper losgegangen und Chris musste dabei den Halt verloren haben. Er war aus einigen Metern in die Tiefe gestürzt. Dabei hätte er sich alles mögliche brechen können, scheiße, vielleicht hatte er sich sogar an der Wirbelsäule verletzt. Oder noch schlimmer, der Aufprall könnte eine innere Blutung ausgelöst haben... Ganz zu schweigen davon, welche Verbrennungen er sich vielleicht durch die Fehlzündung des Feuerkörpers zugezogen hatte. Und dann war da ja noch diese scheiß Grippe die er womöglich schon seit Tagen mit sich rumschleppte und das Fieber, das ihm zusätzlich zusetzte.
Das Zuschlagen der Krankenwagentür ließ Andreas zusammenzucken. Geschockt ließ er seinen Blick hinab gleiten, zuerst auf das Handy, das Babsi in seine Hand gedrückt hatte, und dann auf Chris, der immer noch bewusstlos auf der Trage lag.
So still. So blass und still wie... wie ihr Vater... damals.
Andreas zog scharf die Luft ein und ließ Chris' Hand los. Alles drehte sich, als sich der Wagen in Bewegung setzte und die Sirene plötzlich die Luft durchschallte.
Am Boden zerstört, vergrub Andreas das Gesicht in den Händen und ließ die Tränen fallen.
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Anders Als Man Denkt
ActionEs ist der letzte Auftritt der Tour und Chris hat sich eine Grippe eingefangen. Geschwächt vom Fieber und emotional aufgewühlt nach einem Streit mit Andreas passiert das Undenkbare: Chris hat einen Unfall auf der Bühne und wird schwer verletzt. Wir...