Kapitel 9 - Die Sorge

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Andreas blickte auf das Display. 

Es war Steffi. 

Er holte tief Luft und hob ab. "Hey." 

„Weißt du schon was? Was hat der Doktor gesagt?" fragte Steffi, völlig außer sich vor Sorge.

Sie klang außer Atem, so als hätte sie gerade alle Mühe gehabt die Kinder abzuwehren und sich alleine irgendwo mit dem Telefon zu verschanzen. Sie hatte ihnen bestimmt nur eine abgeschwächte Version davon erzählt, was mit ihrem Onkel Chris los war. Immerhin wusste Steffi nur allzu gut wie sehr die Kids ihren Onkel anhimmelten. Doch irgendetwas musste sie ihnen ja erzählt haben um zu erklären, warum ihr Vater völlig aufgelöst angerufen und ins Telefon geheult hatte. Auch ohne genaue Details, würden sich die drei inzwischen wahrscheinlich fürchterliche Sorgen machen. Sie würden darum betteln, in das Krankenhaus kommen zu dürfen und Andreas wollte das nicht. Er wollte nicht, dass sie Chris so sahen. So... so blass und still. So reglos. Wie ihren Opa, damals, bevor er...

„Andi? Jetzt sag doch was, verdammt! Was hat der Doktor gesagt? Geht es ihm gut?"

„I-ich denke schon, ja." Andreas schloss seine Augen gegen die brennenden Tränen, die drohten ihm erneut die Wangen runterzulaufen. „Der Arzt hat gemeint er hat die OP gut überstanden."

„Gott sei Dank," Steffi klang so als könnte sie sich kaum noch zusammenhalten.

Andreas hatte einen schmerzhaften Kloß im Hals. "Vielleicht wird er nie wieder normal gehen können, wenn das hier vorbei ist, Steffi."

"Was? Ist seine Wirbelsäule—"

"Irgendwas wegen der Blutzufuhr... vermutlich sind ein paar Nerven beschädigt," murmelte Andreas niedergeschlagen und wusch sich mit der Hand über das Gesicht. "Der Arzt hat irgendwas von Physiotherapie gesagt. Und von eingeschränkter Mobilität."

„Na und?" fragte Steffi völlig aufgelöst. „Andi, er hätte sterben können! Da ist ein wenig eingeschränkte Beweglichkeit ja wohl kaum der Rede wert."

„Du verstehst das nicht," zischte Andreas. „Das würde bedeuten, dass—"

„Was? Dass er nicht mehr auf der Bühne stehen kann?"

„Steffi—"

„Wäre das denn wirklich so schlimm, Andreas? Wir hätten ihn heute fast verloren!"

„Denkst du vielleicht ich wüsste das nicht?" fauchte Andreas ins Handy, als sich die aufgestaute Verzweiflung der letzten Stunden plötzlich in ihm löste. „Was glaubst du denn wie sich das hier alles für mich anfühlt? Denkst du für mich ist das hier ein Kindergeburtstag oder was?"

Steffi schluchzte und Andreas' Zorn verpuffte wie ein Tropfen Wasser auf dem heißen Asphalt.

„Was ist nur los mit dir. Chris ist noch nicht mal aus der Intensiv Station draußen und du denkst schon ans Geschäft," warf Steffi ihm vor, die Stimme mit Tränen gefüllt.

"Nein". Andreas schüttelte einfach nur den Kopf. „Ich denk dran, wie es ihm gehen wird, wenn er erfährt, dass alles wofür wir die letzten Jahre so hart gearbeitet haben, dahin ist. Einfach so. Wegen einem verfickten Sturz, okay? Daran denke ich. Und wenn du mir ernsthaft vorwirfst, dass mir das Geschäft wichtiger ist, als mein eigener Bruder, dann—"

„Herr Reinelt?" eine zarte Stimme ließ ihn hochschnellen. Er wandte sich um und sah in die zögerlichen Reh-Augen einer jungen Schwester, die sich vermutlich bessere Dinge vorstellen konnte, als einem Streitgespräch eines Angehörigen und dessen Frau beizuwohnen.

„Andi?" fragt Steffi besorgt. Sogar inmitten eines Streits, konnte Andreas die Angst in ihrer Stimme hören. Er wusste, dass es die Sorge um Chris war, die hinter ihrem Ärger steckte. Chris war nicht nur Andreas' Bruder, aber er war auch Steffi's Schwager und der Onkel der Kinder. Es war nicht auszudenken, was sie ohne ihn machen würden. 

„Ihr Bruder ist in ein anderes Zimmer verlegt worden," erklärte die Schwester. „Ich kann Sie jetzt mitnehmen, wenn Sie ihn sehen wollen.

Andreas?"

„Ich kann jetzt zu ihm, Steffi," erklärte Andreas seiner Frau übers Telefon. „Ich ruf dich dann zurück, okay?"

Er legte auf, nickte der Schwester zu und folgte ihr den Gang runter zu den Krankenzimmern. 

Anders Als Man DenktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt