Kapitel 10 - Die Erinnerung

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Chris lag schlafend auf dem Bett, die Arme über das weiße Bettlaken drapiert.

Die Platzwunde an seiner Stirn war genäht worden, die rechte Hand, die die schlimmsten Brandwunden erlitten hatte, war bandagiert und das linke Bein hing in einem Spaltgips von einer am Bettvorsprung montierten Metallvorrichtung.

Er sah total verloren aus, so kreidebleich wie er da in dem Krankenhausbett lag, ganz still und mit blutleeren Lippen, die Haare zerzaust und mit dunklen Ringen unter den Augen. Sein kleiner Bruder, so totenstill als hätte jeglicher Lebenswille ihn verlassen.

Es brachte Andreas fast um, ihn so zu sehen. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Tränen sammelten sich in seinen Augen und er versuchte erst gar nicht sie zurückzuhalten.

„Ich lass sie beide dann jetzt mal alleine," sagte die Schwester sanft und ging hinaus, um Andreas ein wenig Zeit mit seinem Bruder zu geben. Sie zog die Türe hinter sich zu und schirmte sie mit einem Mal von der nervigen Geräusch-Kulisse des Krankenhauses ab, bis es nur noch Andreas gab, und das sanfte Auf-und Ab von Chris Brustkorb als er schlief.

Andreas nahm ein paar zaghafte Schritte auf das Krankenbett zu und setzte sich in den Stuhl, der neben dem Bett aufgestellt war.

Chris sah viel jünger aus als sonst. Er hatte kaum noch etwas von dem aufgeweckten, lebhaften Energiebündel, das er sonst war. Kein Funke war noch übrig von dem Sonnenschein den er verbreitete wo auch immer sie gerade waren, privat und auf der Bühne.

Nun war er einfach nur still.

Unnatürlich still.

Andreas griff nach Chris' Hand und umfasste sie mit seiner eigenen.

Unweigerlich musste Andreas wieder an ihren Vater denken.

Nun, da Chris ohne dem ganzen Make-Up und Styling dalag, war er fast das Abziehbild ihres Vaters. Die Erkenntnis jagte Andreas einen kalten Schauer den Rücken hinunter.

Er erinnerte sich noch genau an die letzten Monate bevor ihr Vater gestorben war. Doch ein ganz spezieller Tag in dieser unfassbar schweren Zeit war ihm besonders in Erinnerung geblieben. Und zwar der Tag an dem ihr Vater sich entschloss mit der Chemo aufzuhören.

Es war einer der dunkelsten Tage in Andreas' Leben, aber für niemanden war dieser Tag schlimmer gewesen als für Chris...

„Aber... das kann doch nicht dein Ernst sein, Papa," stammelte Chris mit Tränen in den Augen und Andreas konnte sich nicht länger zurückhalten.

„Chris, lass ihn. Du hast ja gehört, dass es seine Entscheidung ist."

„Ach und du nimmst das einfach so hin, ja?" Chris warf er einen wütenden Blick auf seinen Bruder. Dann sah er vorwurfsvoll in die Runde. „Das ist sein verdammtes Todesurteil und ihr steht alle einfach so da und sagt nichts?"

„Chris," versuchte ihr Vater seinem Jüngsten gut zuzureden. „Junge, jetzt sei doch vernünftig—"

„Nein, Papa!" fuhr ihn Chris mit schmerzerfüllter Stimme an. Seine Augen waren randvoll mit Tränen gefüllt. Er wollte es einfach nicht wahrhaben, konnte nicht akzeptieren, was jeder andere in der Familie bereits verstanden hatte. „Es ist noch nicht zu spät, okay? Du kannst doch jetzt nicht einfach aufhören zu kämpfen... bitte." Seine Stimme zitterte und eine Träne lief ihm übers Gesicht. „Bitte, Papa."

„Chris—" versuchte Sylvia dazwischen zu gehen. Sie machte einen Schritt auf Chris zu und legte ihre Hand auf seine Schulter, doch er scheute vor der Berührung seiner Schwester davon, die flehenden Augen immer noch auf seinen Vater gerichtet.

Anders Als Man DenktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt