KAPITEL EINS

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JEONGGUK MOCHTE seinen Studiengang. Er ging darin mit einer Motivation und Euphorie auf, die er zuvor gar nicht von sich gekannt hatte. Er liebte die Fotografie—mit jedem neuen Motiv, mit jedem neuen Klicken und jedem neuen Foto erblühte eine Freude in seinem Herzen, die er noch nie zuvor verspürt hatte. Es machte ihn glücklich und er war froh, dass er einer der Wenigen in seinem Alter war, die schon genau wussten, was sie mit ihrer Zukunft machen wollten. 

Er hatte einen genauen Plan: sein Studium abschließen und dann nach Europa ziehen. Dort wollte er die faszinierende Architektur in Prag, die heimischen Dörfer in Italien und die atemberaubende Landschaft in der Bretagne in Fotografien festhalten. Er sammelte jedes seiner Fotos, auch wenn sie nur Arbeiten für sein Studium oder seinen Job waren—er machte sich immer selber einen Abzug für sich und bewahrte sie auf—er wollte keine einzige seiner Erinnerungen vergessen—er wollte sie für die Ewigkeit behalten. 

Ein großer Haken besaß sein Plan aber: Zunächst war sein Studium teuer, so teuer, dass seine Eltern in Busan ihm das nicht finanzieren konnten. Und er wollte seine Eltern damit auch gar nicht belasten, denn er hatte noch zwei jüngere Geschwister um die sie sich kümmern mussten und seine Familie hatte nie zu denjenigen gezählt, die viel Geld besaßen. Somit hatte Jeongguk mit 15 Jahren in der Küche in dem Restaurant seines Onkels angefangen zu arbeiten. Natürlich war es nicht erlaubt gewesen, doch er hatte Anfangs kaum mehr gemacht, außer Gemüse geschnippelt—und das Stundenlang. 

Kaum war er aus der Schule nach Hause gekommen, hatte er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zu Mittag gegessen, hatte seinen Rucksack in irgendeine Ecke in sein Zimmer geschmissen und war die Straße hinunter zu dem Restaurant seines Onkels gerannt. Dort hatte er von Nachmittags bis Abends Gemüsen geschnitten und Geschirr sauber gemacht. So lange, bis seine Fingerkuppen schrumpelig vom Spülwasser gewesen waren. Aber es hatte ihn nicht gestört—denn er hatte ja einen Traum vor Augen gehabt: nach Seoul ziehen und sein Traumstudium beginnen. 

Und auch wenn er zumeist noch bis nach Mitternacht dann Zuhause an seinem Schreibtisch gesessen hatte—mit dem schlechten Licht der Schreibtischlampe an seiner Seite—um Hausaufgaben zu machen, hatte er sich nicht darüber beschwert. Die letzten drei Jahre seiner Schulzeit hatte er abwechselnd im Klassenraum und in der Restaurantküche verbracht. Und auch wenn ihn seine Familie stehts damit aufgezogen hatten, dass er am Wochenende nicht mit ihnen an das Meer fuhr oder er ihnen absagte, wenn sie abends alle zusammen ins Kino gehen wollten, hatte sich Jeongguk nie schlecht dabei gefühlt—das alles war für seinen Traum. Und das war für ihn das Wichtigste.

Er wollte ein großartiger Fotograf werden—seinem Vater beweisen, der seinen Traum immer als Spinnerei abgetan hatte, was er erreichen würde. Irgendwann würden seine Fotografien überall zu sehen sein: in Reiseführern, in Kalendern, in Zeitschriften und Büchern. Er wollte die Schönheit der Natur einfangen, die Idylle und Harmonie von Stillleben. Irgendwann würde über dem alten Sofa in ihrem Haus in Busan eine riesige Landschaftsaufnahme von ihm hängen und seine Mutter würde es stolz ihren Freundinnen zeigen, wenn diese zu Besuch kamen. 

Jeongguk hatte seine ganze Jugend davon geträumt und hart gearbeitet, um diesem Traum hinterher jagen zu können. Und das hatte er getan—sobald er die Schule abgeschlossen hatte, war er nach Seoul gezogen. In die große Stadt aus der die ganze berühmten Dramen kamen—in der die Idols lebten. Die große Stadt der Träume, die Stadt, in der alles wahr werden konnte. Er war damals zwei Mal mit seiner Familie in Seoul gewesen, doch immer nur für wenige Tage im Frühjahr, wenn die Kirschbäume geblüht hatten.

Doch es war etwas anderes, als er plötzlich alleine dort war. Als er das erste Mal zwischen den Wolkenkratzern gestanden hatte, die Geräuschkulisse auf sich hatte einwirken lassen und mit seinen zwei Kartons und seinem einen Koffer vor dem Gebäude stand, in dem er von nun an leben würde—da hatte er fast einen Nervenzusammenbruch gehabt. Er war ganz alleine, er kannte niemanden in Seoul. Er hatte keine Verwandtschaft hier, keine Freunde. Es war nicht so, als wäre Busan nicht groß, Busan besaß ebenso Wolkenkratzer und große Einkaufsviertel, aber sie hatten Außerhalb gewohnt. Am Stadtrand und Jeongguk war in den Straßen groß geworden. Er hatte sich daran gewöhnt, war mit seinen zwei Geschwister, seinen Eltern und seinem besten und einzigen Freund durch die Straßen gegangen und es hatte sich heimisch angefühlt. Dort hatten ihm die großen Gebäude keine Angst eingeflößt.  

STARBOY | ʲᵘᶰᵍʰᵒᵖᵉWo Geschichten leben. Entdecke jetzt