Durcheinander

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Als Hermine an den Ladengeschäften in Hogsmeade vorbeiging, fühlte sie sich wieder wie eine Schülerin. Einzig die Tatsache, dass ihre Tochter neben ihr herlief, holte sie aus der Vergangenheit zurück.
„Schau mal, Mama, wie hoch ich schon hüpfen kann!“, rief Flora freudig aus. Hermine schenkte ihr ein warmes Lächeln und beobachtete ihre Bemühungen.
„Können wir dann wieder appabiern?“
Sie musste schmunzeln als sie hörte wie ihr Kind Apparieren aussprach. „Ja, aber zuerst müssen wir noch nach Hogwarts. Dort will ich mit einer ehemaligen Lehrerin etwas besprechen.“
Flora schaute sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Sie liebte das Apparieren. Was für die meisten Hexen und Zauberer bei dieser Art des Reisens ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend war, musste für sie ein Hochgenuss sein.
Noch immer war sich Hermine nicht sicher, ob sie das Jobangebot von Professor McGonagall annehmen sollte. Sie hatte auf eine sofortige Anstellung nach ihrer Rückkehr aus Australien gehofft, jedoch im Zaubereiministerium.
Drei Jahre lang hatte sie Verwandlung und Magische Bürokratie an einer australischen Zaubererhochschule studiert. Dass sie innerhalb der Regelstudienzeit ihren Abschluss machen konnte, hatte sie allein ihren netten Professoren zu verdanken, die kein Problem darin sahen, wenn Hermine Flora zu den Vorlesungen mitbrachte.
Schon während ihres sechsten Schuljahres kam in ihr der Wunsch auf, später einmal im Zaubereiministerium arbeiten zu können, in der Abteilung für magische Strafverfolgung, Unerlaubte Verwandlungen. Sie hatte vorgehabt, Kingsley aufzusuchen und nach einer Anstellung zu fragen, doch Minerva durchkreuzte ihre Pläne.
Sollte sie wirklich ihren Traumberuf aufgeben? Zudem schlich sich leise immer wieder ein und derselbe Gedanke ein: War dies überhaupt noch das, was sie wollte?
Die Arbeit im Ministerium ist einseitig, ein Tag scheint meist wie der andere. Hermine war sich dessen bewusst, denn genau das hat sie nach dem Krieg dazu getrieben, Magische Bürokratie zu studieren. Ruhe, Abgeschiedenheit war alles, was sie sich zu diesem Zeitpunkt gewünscht hatte. Der Kampf gegen Voldemort hatte ihr zu viel abverlangt, und das Letzte, was sie wollte, war ein aufregender Job.
Doch je näher Hermine ihrem Abschluss kam, desto mehr zweifelte sie an ihrer Entscheidung. Flora half ihr, ihren anfänglichen Pessimismus zu begraben. Das Leben wurde wieder farbenfroh, die Sehnsucht nach Kontakten wuchs und die Gier nach fordernden Aufgaben brachte sie langsam ihrem alten Ich näher.
„Darf ich rennen, Mami?“
Mittlerweile ragte Hogwarts riesig vor Hermine und ihrer Tochter auf; nur noch wenige Meter trennten sie vom steinernen Eingangsportal.
„Natürlich“, antwortete sie und betrachtete versonnen das imposante Schloss.
Flora stoppte kurz vor dem Eingang, da ihr zwei Männer entgegen kamen, die selbst für Kinderaugen etwas Groteskes darstellen mussten: Der eine klein und gedrungen, mit einem enormen Schnurrbart, der stark an ein Walross erinnerte, und dem Hang zu samtenen Umhängen; der andere groß, hager und furchteinflößend, sowohl durch seine schwarze Kleidung als auch den finsteren Blick.
Wie versteinert blieb Hermine stehen. Ihr Körper wurde durchflutet von Adrenalin und ein leichter Schwindel breitete sich in ihrem Kopf aus, da sie begann zu hyperventilieren. Erst Slughorns Worte riefen sie in die Realität zurück, und zwanghaft versuchte sie sich zu beruhigen, wenngleich dies Hermine eher mäßig als recht gelang.
„Wenn du mal nicht Hermine Grangers entzückende Tochter bist. Oh ja, ich sehe schon jetzt denselben Wissensdurst in deinen Augen. Du wirst einmal eine genauso kluge Hexe wie deine Mutter sein.“ Slughorn tätschelte vergnügt Floras Lockenkopf und sah dann in Hermines Richtung. „Miss Granger, nun gesellen Sie sich doch endlich zu uns. Es gibt so viel zu bereden.“
Steif setzte Hermine sich in Bewegung. Nur widerwillig überwand sie die sicheren Meter, die sie bisher noch von den beiden Männern getrennt hatten.
Weshalb musste sie ihn schon wieder treffen? Ausgerechnet die Person, der sie sogar Lucius Malfoys Anwesenheit vorgezogen hätte.
Hermine versuchte sich so neben Slughorn zu stellen, dass sie möglichst wenig von Snape sehen konnte, was jedoch aufgrund seiner Größe sehr erschwert wurde. Sie konnte seinen Blick auf sich spüren, der sich unablässig und immer tiefer in sie zu bohren schien. Eine Machtlosigkeit, die sie dazu treiben wollte umzudrehen und einfach wegzurennen, überfiel sie. Einzig Slughorns Präsenz ließ Hermine standhaft bleiben und verhinderte, dass sie sich ihrem Fluchtinstinkt hingab.
Ihre Augen suchten Flora, die unterdessen damit angefangen hatte, den samtenen Umhang des alten Professors zu streicheln. Ein erzwungenes Lächeln erschien auf ihren Lippen und sie nahm all ihren Mut zusammen um aufzublicken – jedoch lediglich in Slughorns Gesicht.
„Miss Granger, darf ich Ihnen als erstes ein Kompliment machen? Sie sehen wirklich bezaubernd aus. Schon damals waren Sie eine äußerst schmucke junge Dame, doch nun haben Sie sich zu einer hübschen und reifen Frau gemausert. Habe ich nicht recht, Severus?“ Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, um Snape zu einer Antwort zu bewegen, dann gluckste er auf. „Habe ich ein Glück: Gleich zwei freudige Begegnungen innerhalb kürzester Zeit! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie verwundert ich war, als Severus vorhin plötzlich in meinem Büro stand. Schon seit Jahren bitte ich ihn darum, mir von seiner Forschungsarbeit zu berichten, doch nicht einmal eine Eule erhielt ich.“ Ein tadelnder Blick traf Snape.
„Ich wollte dich nicht mit Geschichten über die Recherchen und Testtränke langweilen, sondern mit Ergebnissen meine Aufwartung machen.Leider benötigt es seine Zeit, bis diese zustande kommen“, äußerte Snape trocken und wich elegant einem Ellenbogen Slughorns aus, der ihn scherzhaft in die Seite stupsen wollte.
„Das ist doch nicht der Rede wert. Du bist gekommen, allein das zählt.“
Hermine beobachtete still die Szenerie vor sich. Snape war also freiwillig hier, um seine Zeit mit Slughorn zu verbringen? Sie schüttelte innerlich den Kopf. Welch absurder Gedanke! Er suchte die Gesellschaft anderer nur auf, wenn diese auch mit einem Nutzen verbunden war. Ebendas war in all den Jahren, in denen er sie unterrichtet hatte, offensichtlich gewesen. Dass andere diesbezüglich scheinbar unwissend waren, erschien ihr töricht. Was er sich allerdings von diesem Treffen erhoffte, war ihr schleierhaft.
Slughorn ging mit laut knackenden Gelenken vor Flora in die Knie. „Wir beide werden zukünftig sicherlich viel Spaß zusammen haben. Ich könnte dir zum Beispiel Geschichten ehemaliger Schüler erzählen oder das Brauen einfacher Zaubertränke beibringen. Das wird lustig!“
Ein skeptischer Blick musste ihm als Antwort genügen, denn Flora blieb stumm.
„Sieh doch nur, Severus! Wenn sie so schaut, sieht sie dir wirklich ähnlich. Flora könnte glatt deine Tochter sein“, brachte Horace lachend hervor und richtete sich wieder auf.
Augenblicklich schoss Hermine das Blut in den Kopf und sie begann zu schwitzen. Ohne sich wirklich kontrollieren zu können, suchten ihre Augen Snape. Seine gesamte Körperhaltung hatte sich verändert: Wirkte er noch vor Sekunden entspannt und geschmeidig, so war sein Körper nun verkrampft, seine Gesichtszüge waren vor Anspannung verzerrt und er ballte die Hände zu Fäusten.
Auch Slughorn schien der jähe Stimmungswechsel nicht entgangen zu sein, denn er sah unsicher von einem zum anderen. „Meine Lieben, das sollte doch nur ein kleiner Jux sein.“ Während er dies sagte, zupfte er nervös an seinem Bart herum. „Nun, ähm … Ach ja, da fällt mir ein, dass ich erst letztens einem früheren Schüler begegnet bin, der …“
Hermine versuchte dem Themenwechsel zu folgen, doch gelang es ihr in keinster Weise, da sie noch immer ihren Blick auf Snape geheftet hatte. Langsam kam wieder Leben in seine Glieder, und noch bevor sie sich dessen gewahr wurde, trafen sie seine schwarzen Augen.
Es war ihr, als würde sie ihn zum ersten Mal wirklich ansehen. Dieser Mann war ihr gleichzeitig so fremd und doch vertraut.
Erinnerungen an die Gefangenschaft in Malfoys Haus suchten sich einen Weg in Hermines Verstand. Schon lange erweckten diese Bilder keine Angst und Verzweiflung mehr in ihr. Dank des Trankes hatte sie keine Schmerzen verspürt, nur verschwommene Sequenzen wanderten an ihr vorbei, fast wie ein surrealer Traum.
Der Krieg hatte viele Opfer gefordert. Dies war eines ihrer Opfer. Auch wenn sie anfangs damit zu kämpfen hatte, wollte sie Erlebtes nie rückgängig machen, denn sie hatte dadurch so viel mehr gewonnen als verloren.
Ein kaum zu erklärendes Gefühl der Dankbarkeit stieg in Hermine auf, das sie immer mehr in Snapes Nähe drängen wollte, und ein Teil von ihr begehrte dies auch. Es erforderte nur einen kurzen Moment des Mutes und sie könnte ihre Arme um ihn legen und diese zarte Geste allein sprechen lassen, all ihre Emotionen somit zum Ausdruck bringen.
Noch immer war sie gefangen von seinen dunklen Augen. Niemals zuvor hatte sie so viele Fragen darin gesehen, so viele Empfindungen, die kaum zu benennen waren und die sie nicht im Entferntesten bei Snape hätte für möglich gehalten. Und da plötzlich erkannte Hermine die Frage, die ihn am meisten bewegte. Er hatte es ihr verraten, beabsichtigt oder nicht, einzig durch seinen Blick.
Hermine wurde unsanft in die Realität zurückgeholt. Die tiefe Verbundenheit, die sie noch eben gespürt hatte, wich einer Panik, die ihr die Tränen in die Augen trieb und ihr Herz schmerzhaft gegen ihre Rippen schlagen ließ. Wie konnte sie nur so naiv sein und annehmen, dass ein Mann wie Snape es nicht würde herausfinden können?
Eine einzelne Träne rann langsam ihre Wange hinunter. Sie wollte wegrennen, so schnell wie möglich aus Snapes Nähe verschwinden, doch war alle Kraft aus ihrem Körper entschwunden.
„Komm mit, Mama.“ Hermine spürte Floras kleine Hand, die zart ihre ergriffen hatte und sie nun in Richtung des Schlossportals zog. Sie war ihrer Tochter in diesem Moment so unendlich dankbar.
Leise drangen Slughorns Worte an ihr Ohr, der besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei, doch sie gingen ungeachtet dessen weiter. Nein, nichts war mehr in Ordnung.
Was würde geschehen, würde Snape seinen Verdacht bestätigt wissen? Ihre Angst davor war so groß, dass sie sich weigerte, weiter über die Folgen nachzudenken.
Sie hatten mittlerweile die Eingangshalle passiert, und Hermine atmete erleichtert auf, als sie merkte, dass keiner der beiden Professoren ihnen gefolgt war. Flora riss sich von der Hand ihrer Mutter los und rannte zu dem Gemälde eines Schiffes auf hoher See.
„Das Boot bewegt sich! Und das Wasser auch!“, rief sie begeistert aus und stürmte schon weiter zum Portrait eines dicken Mannes, der ihr freundlich winkte.
Hermine war froh darüber, dass Flora abgelenkt war, denn musst sie selbst ihre Gedanken ordnen. Sie lehnt sich an eine der Mauern und wartete drauf, dass ihr Herz wieder in seinem normalen Rhythmus schlug.
Das Gefühl der Verzweiflung nahm langsam aber stetig ab, und Hermines Verstand gewann abermals die Oberhand. Erneut versuchte sie sich den Blick ihres einstigen Professors vor Augen zu führen – den Blick, der sie vor Angst flüchten ließ. Wusste er wirklich so viel? Wie konnte sie sicher sein, ihn richtig gedeutet zu haben?
Sie schallt sich selbst einen Narren. Nein, ein Severus Snape würde seine Gedanken nicht an Hermine und ihre Tochter verschwenden, versuchte sie sich einzureden. Es war lediglich Zufall, dass sie sich hier begegnet waren, und er hatte sie allein so interessiert gemustert, da es auch für ihn eine Kuriosität war, dass Hermine bereits ein Kind hatte.
Durch ihre eigenen Lügen beruhigt, ging Hermine mit Flora in Richtung des Büros der Schulleiterin.

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