Kapitel 14 - Das Wiedersehen

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"Was macht ihr denn hier?" stieß Andreas völlig verdutzt aus und querte den Wartesaal. 

Vier Monate lang hatte er seine Frau nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gesehen und nun stand sie da, die Haare zu einem losen Dutt gebunden, mit Ringen unter den Augen so als hätte sie die letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Steffi sah völlig fertig aus, aber verdammt, tat es gut sie endlich wieder in die Arme schließen zu können. 

"Hey." Andreas drückte sie fest an sich und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Sie roch nach Veilchen und Vanille und Andreas schloss seine Augen als sie ihre Arme um seinen Rücken schlang und die Umarmung erwiderte. 

"Hey", gab Steffi müde zurück. Die beiden ließen reumütig voneinander ab und Andreas presste einen sanften Kuss gegen ihre Lippen ehe er einen Schritt zurück machte und sich seiner Mutter zuwandte. 

"Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass ihr kommt?" fragte Andreas, immer noch ein wenig verwirrt darüber, dass die beiden nun wirklich vor ihm standen. Ohne auf eine Antwort zu warten, machte er einen Schritt auf seine Mutter zu, die sogar noch schlimmer mitgenommen zu sein schien als Steffi, und umarmte sie ebenfalls. 

"Andi..." Seine Mutter zitterte in seinen Armen und krallte die Finger zu Fäusten in seinem Shirt. 

"Mama. Es geht ihm gut, hörst du?" 

"Aber—" 

"Nix, aber", sagte Andreas bestimmt und unterband damit jedweden Widerspruch seiner Mutter. Er wusste wie ängstlich sie sein konnte, wenn es um eines ihrer Kinder ging und daher musste Andreas jetzt stark sein. Solange er sich nicht anmerken ließ, wie schlimm es wirklich um Chris' Gesundheit stand, würden seine Frau und seine Mama sich vielleicht wieder beruhigen. Das letzte was Chris jetzt gebrauchen konnte, war das Mitleid von seiner Familie. "Die OP ist gut verlaufen. Er ist wach und ansprechbar. Die Ärzte meinen die Chancen stehen gut, dass er wieder ganz der Alte wird."

"Andreas, wie konnte das denn passieren?" wollte seine Mutter wissen. Sie war völlig aufgelöst, die Augen schwammen mit Tränen und Andreas meinte einen Funken von Vorwurf in ihnen aufkeimen zu sehen. Der Gedanke verpasste ihm einen Stich im Herzen.

Mit einem Mal, stieg sein Puls in die Höhe. Er konnte kaum in ihre Augen sehen, so viel Schmerz war darin verborgen, so viele Fragen... so viel Zweifel. 

Es war ein unausgesprochenes Abkommen zwischen seiner Mama und Andreas, dass es Chris um jeden Preis zu beschützen galt. Chris war zwar hart im Nehmen und mehr als fähig wenn es um ihren Beruf ging, aber unter seiner harten Schale steckte ein weicher Kern. 

Andreas wusste nur zu gut, wie schnell Chris sich Dinge zu Herzen nahm, wie tief ihn Worte zusetzen konnten. Er wusste auch, dass Chris ein regelrechtes Unfall-Magnet war und dass sein Tatendrang und seine unstillbare Neugierde ihn oftmals in Schwierigkeiten brachte. Schon auf dem Schulhof hatte Andreas Chris oft den Rücken freihalten müssen, wenn ihn die anderen Jungs Ärger machten. Mehr als einmal hatte er einem anderen Schulkameraden einbläuen müssen, dass niemand sich mit Chris anlegen durfte. Und zu oft hatte er Chris verarzten müssen, nachdem sein kleiner Bruder beim Klettern oder Fahrradfahren hingefallen war, sich von irgendeinem Tier beißen oder stechen gelassen oder er eine Giftpflanze angefasst hatte. Chris war mit seinen Wunden immer zu Andreas gekommen. Niemals zu Mama oder Papa. 

Und jetzt standen sie da, Mama mit Tränen in den Augen und diesem unbeschreiblichen Ausdruck auf ihren Zügen, so als wollte sie Andreas fragen 'Wie konntest du es nur dazu kommen lassen?'

"Er... wir hatten einen Streit", gab Andreas zögerlich zu. Er konnte fühlen wie seine Stimme zu zittern begann. Stunden waren einstweilen vergangen, seit dem Unfall. Und dennoch kam es Andreas vor als hätte er Chris gerade erst auf der Bühne gesichtet, ganz still und komisch verdreht, so als wäre er... "Es war ein Unfall, Mama. Du weißt ja wie stur Chris sein kann... er hat einfach nicht auf mich gehört und wollte trotz Grippe beim Aufbau mit anpacken."

"Hey, schon gut", ging Steffi sanft dazwischen als sie die Anspannung in der Luft spürte. Sie griff nach Andreas Hand und umgriff sein Kinn mit der anderen, bis sein Blick von seiner Mutter zu seiner Frau schweifte. Steffi sah ihn einfühlsam an, so als konnte sie jeden einzelnen seiner Gedanken lesen. Sie drückte seine Hand und warf ihm ein sanftes Lächeln zu. "Chris ist alt genug seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Er hat Mist gebaut. Das kommt vor. Niemand hier macht dir irgendwelche Vorwürfe, okay?" 

"Steffi hat recht," meinte Mama und der Bann war gebrochen. Sie blinzelte schnell als eine Träne über ihre Wangen kullerte und wischte sich hastig über das Gesicht. "Es tut mir leid, Andi. Dich trifft natürlich keine Schuld", meinte sie mit zittriger Stimme und fiel Andreas um den Hals. 

Steffi ließ von ihm ab und Andreas sandte seiner Frau einen dankbaren Blick über die Schulter seiner Mutter zu als er ihr beruhigend auf den Rücken klopfte. 

Seine Mutter schluchzte in seine Halsbeuge und Andreas' Gesicht verzog sich schmerzhaft. 

"Mama..."

"Es ist nur... d-das Krankenhaus. Die ganzen alten Erinnerungen. U-und wenn ich ihn dann da d-drinnen liegen sehe, in dem Krankenbett, dann—"

Andreas seufzte. "Mama. Chris ist doch nicht sterbenskrank. Er wird wieder, okay?" 

"Aber wenn ich daran denke was hätte passieren können—"

"Hör auf", unterbrach sie Andreas sanft. Er schüttelte den Kopf und hielt sie noch eine Weile lang, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Dann ließ er sie los und machte einen halben Schritt zurück um in ihr verweintes Gesicht zu schauen. "Ihr seid doch nicht den ganzen Weg aus Bünde hierher gekommen um schwarzzumalen, oder?"

Mama schüttelte den Kopf und legte ihre Finger um Andreas' Ellenbogen. "Nein, du hast recht." 

"Na eben", sagte Andreas mit einem schwachen Lächeln. "Chris hat einen langen Weg vor sich und das heißt wir müssen jetzt stark für ihn sein."

"Aber natürlich", pflichtete Steffi ihm bei und legte ein Hand auf Andreas' Rücken. 

"Wo habt ihr überhaupt die Kids gelassen?" 

"Bei deiner Schwester", gab Steffi zurück. "Sie hatte die Idee, dass wir den Flieger nehmen." 

Andreas lächelte und machte eine Notiz in seinem Hinterkopf sich später ordentlich bei seiner Schwester zu bedanken. Die Kinder mitzubringen, hätte alles nur noch viel komplizierter gemacht. Es würde ohnehin schon schwierig genug werden, Steffi, Mama und Chris nach allem was passiert ist zu beruhigen. 

"Sollen wir zu ihm?" drängte Mama ungeduldig. 

Andreas biss sich auf die Unterlippe.

Er zögerte. 

"Also Mama, versteh das jetzt bitte nicht falsch, aber Chris..." Andreas schüttelte sachte den Kopf und rang nach den richtigen Worten um zu beschreiben, was gerade im tiefsten Inneren seines Bruders vor sich ging. "Er hat noch nicht ganz verarbeitet was passiert ist. Es macht ihm zu schaffen, dass er wohl länger nicht auf der Bühne stehen wird." 

Andreas fuhr sich mit der Hand über die Stirn und warf seiner Mutter und Ehefrau einen zerknirschten, fast schon reumütigen Blick zu. "Würde es euch was ausmachen, wenn ich vorher mit ihm rede?" 

Seine Mutter sah enttäuscht aus und so als wollte sie protestieren, doch Steffi legte schnell die Hand auf ihre Schulter. "Na klar. Geh du schonmal vor und wir beide setzen uns inzwischen ins Café. Sag uns einfach Bescheid, wenn er soweit ist, ja?"

Andreas gab Steffi einen Kuss zum Abschied und hauchte ihr ein kaum hörbares 'Danke' zu. 

Dann rauschte er den Gang hinunter auf Chris' Zimmer zu.






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