Kapitel 15 - Das Gefühlschaos

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Als Andreas durch die Tür hindurch in Chris' Zimmer schlüpfte, machte sich ein mulmiges Gefühl in ihm breit. 

Unter normalen Umständen hätte er wohl vorher geklopft, doch er wollte es nicht riskieren Chris zu wecken, also schritte er leise in den abgedunkelten Raum, wo Chris scheinbar regungslos, mit dem Rücken zur Tür unter der Decke vergraben lag. Es sah fast schon schmerzhaft unnatürlich aus, wie er dalag. Das linke Bein hing immer noch mit dem Spaltgips in der Vorrichtung am Fuße des Krankenbettes und Chris war krampfhaft von der Tür weggedreht, so als wollte er dem Krankenhaus mitsamt seinen Ärzten und Krankenschwestern trotzen. Die Decke hatte er bis zum Nacken hochgezogen, so als wollte er sich vor der ganzen Welt verstecken. 

Andreas zögerte als er die Tür sachte hinter sich ins Schloss fallen ließ. 

Er machte ein paar vorsichtige Schritte auf das Bett zu und erst als er die Mitte des Raumes erreicht hatte, konnte er es hören. Ein ganz leises Schluchzen. Chris weinte. 

Seine Schultern zuckten sporadisch unter der Decke mit jedem seiner krampfhaften Atemzüge, die er versuchte, zu unterdrücken. 

Andreas erstarrte und hielt den Atem an. 

Er schloss die Augen in Erleichterung darüber, Mama und Steffi nicht sofort mitgenommen zu haben. Das letzte was Chris jetzt brauchte war, dass ihn seine Familie so sah und ihn noch mehr bemitleidete. Chris hatte noch nie gerne Schwächen zugegeben. Er zog sich meistens zurück wenn ihm etwas Sorgen oder Trauer bereitete. 

"Chris?" fragte Andreas leise. 

Chris sog scharf Luft ein und erstarrte. 

Er schien das Öffnen und Schließen der Tür gar nicht mitbekommen zu haben. 

Andreas schritt hinüber zum Krankenbett und wartete bis Chris sich langsam zurück auf seinen Rücken drehte. Sein kleiner Bruder wischte sich schniefend mit der Hand über die nassen Wangen und versuchte erst gar nicht seine Tränen zu verstecken. Er sah völlig fertig aus, so wie eines von Andreas' Kindern, nachdem sie sich von einem Streit mit ihren Geschwistern völlig emotional verausgabt hatten. Fertig und erschöpft und übermüdet und am Ende seiner physischen und emotionalen Kräfte. 

Andreas verspürte das unerklärliche Bedürfnis Chris in den Arm zu nehmen.

Stattdessen, strich Chris liebevoll durch die widerspenstigen Haare. "Du wirst wieder ganz der Alte, Bruder. Das verspreche ich dir."

"Versprich mir nichts, was du nicht halten kannst", gab Chris flüsternd zurück und es brach Andreas das Herz ihn so zu sehen. So hoffnungslos. "Bitte tu das nicht."

Andreas spürte wie sein Kiefer sich anspannte und sein Adams Apfel zuckte. Er hatte noch nie eines seiner Versprechen an Chris gebrochen und er hatte nicht vor, das jemals zu ändern. 

"Mama und Steffi sind da", wechselte er das Thema. 

"Was?" Chris' Augen weiteten sich. Er versuchte sich aufzusetzen, raufte kurz mit dem Bettlaken und stieß dann ein schmerzerfülltes Zischen aus, als er durch die Bewegung die Brandwunde an seiner Hand irritierte. "Scheiße." 

"Hey, immer mit der Ruhe", sagte Andreas und presste eine Hand gegen Chris' Schulter um ihn sanft zurück gegen das Kissen zu drücken. "Ich hab ihnen gesagt, sie sollen erstmal draußen warten. Hab mir schon gedacht, dass du dir vielleicht noch die Nase pudern willst, bevor sie hier reinspaziert kommen und dich mit Fragen bombardieren."

"Leck mich", gab Chris schwach zurück und wischte sich erneut die Nässe von den Wangen. Er lächelte Andreas durch die Tränen hindurch an und Andreas hörte das 'Danke, Bruder' laut und deutlich, auch ohne dass Chris es mit Worten zum Ausdruck brachte. "Sind die Kids auch mit?" 

Anders Als Man DenktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt