1. Kapitel

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Es war dunkel. Stockdunkel. Ein Teenager saß mit einem kleinen, ängstlichen Mädchen auf dem Schoß in der hintersten Ecke eines Kinderzimmers. Das Mädchen wimmerte leise, doch der Junge versuchte sie mit einem kontinuierlichen „Schhh, schhh" zu beruhigen. Die Zimmertür war verschlossen, doch hinter der Tür drangen wütende Schreie durchs ganze Haus, die das Mädchen und den Jungen zusammenzucken ließen. „Diese Drecksgöre! Na warte, die kann was erleben! Hat einfach mit ihren Drecksstiften meine ganzen Unterlagen versaut! Dafür verdient sie erst mal eine ordentliche Tracht Prügel!", hörten sie das Gebrüll eines erwachsenen Mannes. „Chris, warte!", rief eine Frau desselben Alters mit weinerlicher Stimme. „Tu dem Mädchen nichts! Das hat sie doch nicht extra gemacht!" „Pah!", rief der Mann. „Weißt du eigentlich, wie lange ich an diesen Dokumenten gesessen habe?! Meine Arbeitskollegen verlassen sich auf mich! Und nun muss ich alles erneut ausdrucken! Wenn du diese Rotzgöre gar nicht erst zur Welt gebracht hättest, wäre all das nicht passiert!" „Aber unser Sohn hat sich doch so sehr auf ein Geschwisterchen gefreut!", schluchzte die Frau. Der Mann fing an abfällig zu lachen, was das Mädchen in der hintersten Ecke des Kinderzimmers noch mehr zum Wimmern brachte. „Jaja, unser Sohn! Unser Sohn ist ein Versager! Eine Niete! Eine absolute Enttäuschung für die Familie! Bringt nur schlechte Noten nach Hause! Was soll aus dem denn mal werden! Nein, die beiden müssen mal richtig erzogen werden! Ich werde ihnen zeigen, was Disziplin bedeutet! Wo haben sich die beiden denn heute wieder versteckt?!" Das Mädchen hörte, wie sich schwere Schritte auf die Tür des Kinderzimmers zubewegten. Sie drückte ihren Kopf noch enger an die Brust des Jungen und kniff ihre Augen fest zusammen, als ob ihr das dabei helfen würde, aus der Realität hinaus in eine andere Welt zu flüchten. „Chris, bitte nicht!", rief die Frau wieder schluchzend. „Es sind doch unsere Kinder!" „Halt die Schnauze!", blaffte der Mann wütend und ein lauter Schlag war zu hören. Die Frau schrie auf. Dann näherten sich die Schritte des Mannes wieder dem Kinderzimmer. „Kinder, wo seid ihr?", rief er. Seine Stimme klang gefährlich nah. „Tut eurem Daddy einen Gefallen und kommt aus eurem Versteck heraus!" Obwohl seine Stimme nun nicht mehr so wütend klang, wusste das kleine Mädchen, dass diesem Tonfall nicht zu trauen war. Durch seinen Tonfall versuchte der Mann nur das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. So viel hatte das Mädchen schon gelernt. Gleich würde es Ärger geben. Gewaltigen Ärger. Vorsichtig blinzelte sie. Durch den Spalt unter der Tür konnte sie sehen, dass zwei Füße vor der Tür zum Kinderzimmer standen. Der Türknauf wurde herumgedreht und die quietschende Tür öffnete sich langsam. Es war zu spät. Ihr Vater hatte sie gefunden.

Schweißgebadet und schwer keuchend wachte ich auf und fuhr nach oben, bis ich kerzengerade in meinem Bett saß. Ich zitterte am ganzen Körper. Nein. Nicht schon wieder. Ich hatte seit Monaten keinen Albtraum mehr gehabt. Ich hatte gedacht, die Zeit der Albträume sei endlich vorbei. Ich versuchte, tief durchzuatmen. Alles ist gut, Lauren. Es war nur ein Traum, sagte ich mir selber. Dabei hatte sich der Traum doch so täuschend echt angefühlt. So, als sei ich tatsächlich das kleine Mädchen in dem dunklen Kinderzimmer gewesen, das sich ängstlich an ihren großen Bruder klammerte und Angst vor der Bestrafung ihres Vaters hatte. So, als sei der Traum eine Erinnerung an etwas längst Vergangenes gewesen. Rede dir doch keinen Quatsch ein, wies ich mich selbst zurecht. Der Traum hat sicher nichts zu bedeuten. Ich hatte keinen älteren Bruder. Und meine Eltern hatten mich auch nie verprügelt. Im Gegenteil – ich wusste, dass mich meine Eltern, Ron und Suzanne Taylor, über alles liebten. Ich hatte eine glückliche Kindheit gehabt. Mom und Dad hatten mir fast jeden Wunsch erfüllt. Inzwischen hatte ich zwar nicht mehr eine so enge Beziehung zu meinen Eltern wie damals – ich war ja auch schon 17 Jahre alt und führte mehr oder weniger mein eigenes Leben –, aber ich wusste trotzdem, dass sie mir niemals etwas Böses antun würden. Woher die Albträume, die ich seit meiner Kindheit ab und zu hatte, also kamen, konnte ich mir nicht erklären. Früher, als ich noch in der Grundschule gewesen war, bin ich aufgrund meiner Träume und den darauffolgenden Depressionsphasen, die ich manchmal hatte, sogar ab und zu beim Psychologen gewesen. Die Gespräche hatten mir anfangs zwar geholfen, aber immer nur kurzzeitig. Nach ein paar Wochen, manchmal sogar Monaten, waren die schrecklichen Albträume wieder zurückgekehrt. Als ich auf die Middle School und später die High School kam, wurden die Albträume weniger. Ich hatte auch aufgehört, meinen Eltern davon zu erzählen. Ich wollte ihnen keine unnötigen Sorgen bereiten. Außerdem gingen sie meine Träume auch nichts an. Ich war schon groß genug und würde alleine damit zurechtkommen. Darum beschloss ich, meinen Eltern auch diesmal nichts von dem Albtraum zu erzählen. Wahrscheinlich habe ich nur davon geträumt, weil ich mir mit Lexie neulich diesen Horrorfilm angeschaut habe. Diese Erklärung beruhigte mich ein wenig. Lexie war meine beste Freundin aus der Schule. Ab und zu machten wir einen Filmabend zusammen, wenn wir nicht gerade auf irgendwelche angesagten Partys gingen. Ich war sehr dankbar für sie, denn sie hielt mich davon ab, mir zu viele Gedanken über meine Albträume und Depressionsphasen zu machen. Sie nahm meine Albträume aber sowieso nie ernst, weshalb ich aufgehört hatte, ihr davon zu erzählen. Ich atmete noch einmal tief durch und spürte, wie sich mein Herzschlag und meine hektische Atmung beruhigten. Ich warf einen Blick auf den Wecker, der auf meinem Nachttisch stand. Es war 6:25 Uhr morgens. In wenigen Minuten würde ich sowieso aufstehen müssen. Ich lehnte mich wieder zurück und starrte die Zimmerdecke an, während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen und mich mental auf den Tag einzustellen. Heute war ein gewöhnlicher Freitag im März. Der letzte Tag der Schulwoche. Endlich. Ich konnte die Schule nicht ausstehen und freute mich jedes Mal aufs Wochenende. Glücklicherweise würde ich in wenigen Monaten meinen Highschool-Abschluss machen. Danach würde ich das schreckliche Schulgebäude nie wieder betreten müssen. Ich seufzte und erinnerte mich daran, dass heute Abend eine Party bei Lexies Freund Brandon steigen würde. Obwohl ich im Moment nicht sonderlich in Partystimmung war, freute ich mich doch auf die mir willkommene Abwechslung, die mich von meinen negativen Gedanken und dem Albtraum ablenken würde. Um Punkt 6:30 Uhr klingelte der Wecker und ich stellte ihn aus. Hellwach war ich dank des Traumes ja eh schon, weshalb die routinemäßigen zehn Schlummerminuten heute ausnahmsweise wegfielen. Ich stand auf, zog mich an und schlurfte ins Badezimmer. Heute betrachtete ich mich etwas länger im Spiegel als gewöhnlich. Meine brustlangen, kastanienbraunen Haare hingen mir zerzaust im Gesicht. Unter meinen grünblauen Augen zeichneten sich tiefe, violette Augenringe ab. Na ich sehe ja heute mal wieder schrecklich aus... Mit meiner Haarbürste und meinem Make-Up versuchte ich zu retten, was zu retten war. Ich deckte meine Augenringe und andere kleine Hautunreinheiten großzügig ab und trug Kajal und Wimperntusche auf. Als ich fertig war, ging ich in die Küche, um zu frühstücken. Meine Mutter saß bereits am Esstisch und las in der Zeitung. Als ich die Küche betrat, blickte sie auf und ihr Gesicht erhellte sich. „Guten Morgen, Schatz! Hast du gut geschlafen?", fragte sie lächelnd. „Ja", brummte ich nur, während ich mir mein allmorgendliches Müsli vorbereitete. Meine Mutter stellte mir jeden Morgen dieselbe Frage und ich gab ihr jedes Mal dieselbe Antwort, auch wenn sie dieses Mal gelogen war. Aber das musste sie ja nicht wissen. Mein Vater war um diese Uhrzeit bereits auf der Arbeit. Er arbeitete als Arzt in einem Krankenhaus. Meine Mutter hingegen war Lehrerin an einer Grundschule, die im selben Bezirk lag wie die Highschool, die ich besuchte. „Soll ich dich heute zur Schule fahren?", fragte Mom noch immer lächelnd. Ich schüttelte den Kopf. „Kyle nimmt mich heute mit." Nun erlosch das Lächeln meiner Mutter langsam. Kyle war mein Freund. Er war bereits 22 und ging aufs College. Wenn es sich zeitlich anbot, nahm er mich in seinem Auto auf dem Weg zum College mit und setzte mich vor der Highschool ab. Ich wusste, dass meine Eltern besorgt waren, weil ich so viel Zeit mit ihm verbrachte. Sie waren nicht sonderlich begeistert von ihm, weil sie glaubten, er sei „nicht der richtige Umgang" für mich. Kyle und ich hatten uns vor ein paar Wochen auf der Party kennengelernt, bei der ich mit Austin Schluss gemacht hatte. Austin war mein Exfreund, auch wenn wir nur wenige Wochen lang zusammen gewesen waren. Ich war in meinem Leben schon mit vielen Jungs zusammen gewesen, auch wenn die Beziehungen nie besonders lange hielten. Sobald die Jungs, mit denen ich zusammen war, auf körperlicher Ebene zu weit mit mir gehen wollten, machte ich Schluss. Ich war mir nicht einmal sicher, weshalb. Irgendwie machte mich der Gedanke an Sex panisch. Lexie wusste davon und konnte auch nicht verstehen, was mit mir los war. „Du bist einfach viel zu verklemmt", sagte sie immer kopfschüttelnd. „Lass dich einfach drauf ein. Glaub mir, es wird dir gefallen! Vielleicht hast du einfach noch nicht den richtigen Typen kennengelernt." Ja, vielleicht war das der Grund. Aber woher sollte ich denn wissen, ob der Typ „der Richtige" war? Lexie hatte auch schon mit mehreren Typen geschlafen, egal, ob sie mit ihm in einer festen Beziehung war oder nicht. Und selbst wenn, hatten ihre Beziehungen ebenfalls nie lange gehalten. „Den Richtigen" schien sie also noch nicht gefunden zu haben, obwohl sie zutiefst überzeugt davon war, dass Brandon diese Person war. Mom riss mich aus meinen Gedanken. „Lauren, Liebling, bist du dir sicher, dass du so viel Zeit mit diesem... Kyle verbringen solltest?" Die Art und Weise, wie sie den Namen meines Freundes aussprach, zeigte nur wieder, wie wenig sie von ihm hielt. Ich verdrehte die Augen. „Mom! Ich bin alt genug, um zu entscheiden, mit wem ich wie viel Zeit verbringen möchte." Meine Mutter seufzte und legte die Zeitung auf den Küchentisch. „Ich will doch nur nicht, dass du... verletzt wirst. Du weißt genau, dass mehrere deiner Beziehungen mit Jungs schon zerbrochen sind und wie depressiv du nach den Trennungen immer warst." Da hatte sie recht. Nachdem eine Beziehung mit einem Typen in meinem Leben gescheitert war, war ich normalerweise ziemlich niedergeschlagen, bis ich anfing, mit jemand anderem auszugehen. Meine Mutter sah mir in die Augen. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich sehen, wie besorgt sie um mich war. „Dann waren meine Exfreunde halt nie die richtigen für mich", wiederholte ich Lexies Worte. „Ach, und Kyle, der ist der Richtige?", fragte Mom mit einem Anflug von Spott in ihrer Stimme. „Ich will doch nur das Beste für dich. Überleg dir bitte genau, mit wem du dich auf eine Beziehung einlassen möchtest, okay?" Ich stöhnte. „Das tue ich, Mom. Aber das hier ist mein Leben. Und wenn ich mit Kyle zusammen sein möchte, dann ist das so. Meine Beziehungen gehen dich nichts an!" Ungewollt war ich immer lauter geworden und knallte nun wütend meine Müslischale auf den Esstisch. Die Milch schwappte ein bisschen über. Meine Mutter zuckte zusammen. „Ich bin deine Mutter", sagte sie leise und ihr Tonfall deutete an, dass sie enttäuscht von mir war. „Natürlich geht mich dein Leben etwas an." Und mit diesen Worten stand sie auf, nahm die Zeitung und verließ wortlos die Küche.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 15, 2020 ⏰

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