Teil 42 - Offen und ehrlich?

1K 84 24
                                    

Nachdem Hisoka seine gröbsten Verletzungen gereinigt und mithilfe von Texture Surprise versorgt hatte, war er im Badezimmer verschwunden, um sich zu duschen. YN ging in der Zwischenzeit nervös auf und ab, sie fühlte sich wie vor einer wichtigen Prüfung.

Als er mit nacktem Oberkörper zurückkam, war der große Schnitt über seiner Brust nicht mehr zu sehen. Es schien, es habe nie eine Verletzung in dem Ausmaß gegeben. Und auch nachdem er YN grob erklärt hatte, wie diese Technik funktionierte, verstand sie es immer noch nicht in der Gänze, doch im Grunde war es auch irrelevant. Sie war nicht in der Verfassung, sich auf seine Fähigkeit einzulassen und sie zu verstehen. Alles, was zählte, war, dass Hisoka zur rechten Zeit zurück gekommen war und seitdem hatte er YN kaum aus den Augen gelassen.
Trotz aller Freude über ihr Wiedersehen, stand zwischen ihnen etwas Unausgesprochenes und Unvollendetes.
Wie ein Klavierstück, bei dem am Ende der Abschlusston nicht gespielt wurde. Wie ein perfekt arrangiertes Bücherregal, bei dem ein Fach unsortiert blieb. Wie ein Stapel mit Spielkarten, bei dem eine Karte falsch herum zwischen den anderen Karten gelangt war.
Beide merkten, dass sie über die Dinge reden mussten und so setzten sie sich, wie an ihrem ersten gemeinsamen Abend, auf den Balkon.

Im Vergleich zu jenem Abend war es ebenfalls warm, aber nicht extrem heiß gewesen. Hätte YN nicht an Hisokas Oberkörper gelehnt, hätte sie zu frösteln angefangen. Er merkte dennoch, wie ihr unterschwellig ein Schauer über den Rücken lief und zog sie daraufhin näher zu sich, sie hatte dabei ihre Schläfe an seine harte Brust gedrückt. Einzelne Wassertropfen glitzerten auf seiner hellen Haut und als YN diese fortwischte, erzitterte er schwach. "Du bist aufgelöst. Was ist passiert?"

Die Schuldgefühle prasselten ungehemmt und plötzlich wie ein Sturzregen auf sie ein und die Vorwürfe, die er ihr jeden Augenblick entgegenbringen könnte, vernahm sie klar und deutlich in ihren Gedanken.
Mit dieser Frage wurde ein großer, schwerer Brocken in ihr Herz gelegt, der ihre Schultern herunterzog und ihre Glieder bleischwer werden ließ. Ihre leeren Augen wanderten automatisch zu Hisoka, der sie fragend ansah. Nicht nur ihre üble Laune vor seinem Aufbruch, wie unfair sie sich ihm gegenüber verhalten hatte, auch die Zeit mit Chrollo danach kamen ihr in den Sinn.
Sie konnte ihm unmöglich die Wahrheit sagen, nicht nur ihr Kopf verbot es ihr, auch ihr Mund weigerte sich zu antworten.

Würde sie ihm von Chrollos Kuss erzählen, würde er ihn vermutlich umgehend aufsuchen und dass er sie erneut verließ, konnte und wollte sie nicht nochmals durchleben. Schlimmer wäre der Fall, wenn seine Wut gegen sie gerichtet wäre, denn dann müsste sie damit rechnen, dass er ihr für alle Zeit den Rücken kehren könnte und nie wieder zurück käme.
Sie schluckte, um Zeit zu gewinnen. Doch es ihm nicht zu beichten, war ebenfalls keine Option. Sie würde nämlich erwarten, dass er ihr sowas offen und ehrlich sagen würde; nur den kritischen Teil auszulassen, kam genauso wenig in Frage.

Unruhig fuhr sie mit dem Daumen über ihre Fingernägel und vermied es, Hisokas Blick zu erwidern. Sie wusste zu gut, dass ihr Gesicht Bände spräche, das hatte er ihr wiederholt versichert und so stand fest, dass sie wohl oder übel keine Wahl hatte, als ihm zu berichten, was passiert war, nachdem er gegangen war. Er würde es ohnehin irgendwann erfahren.

Sie versuchte, die Situation so sachlich wie möglich zu beschreiben und stockte beim letzten, aber wichtigsten Detail. Bislang hatte er ihr aufmerksam zugehört und sich mit jedweden Kommentaren zurückgehalten. Als sie ins Zögern geriet, wurde ihr bewusst, dass nun der kritische Teil der Geschichte folgen würde.

"Da gibt es noch eine Sache." Sie merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog und ihr die Tränen in die Augen traten, die sie schnellstmöglich, aber erfolglos wegblinzelte. Als sie das Gesicht abwendete, beschämt über ihre heftige Reaktion, entfuhr ihr ein leises Glucksen. Nun hatte sie sich endgültig verraten.
Sie wusste, dass sie aus der Nummer nicht mehr herauskommen würde. Hisoka hatte jedes Recht zu erfahren, wie ihre Begegnung mit seinem Chef geendet hat, also nahm sie ihren Mut zusammen, räusperte sich und fing kleinlaut an: "Kurz bevor Chrollo gegangen ist, hat er meine Hände genommen, als ob er mit mir tanzen würde und dann..." Gedemütigt schlug sie die Hände vors Gesicht und atmete schwer. "Bevor er gegangen ist, hat er mich geküsst."

Obwohl sie das letzte Wort stotternd und tonlos von sich gab, merkte sie, dass Hisoka es vernommen hatte. Regungslos verharrte sie in der gekrümmten Position und wagte es nicht, ihm in die Augen zu schauen. Zu dem Satz 'Ich konnte mich nicht dagegen wehren.' war sie gar nicht erst gekommen.
Bereits in der Vergangenheit hatte er eindrucksvoll bewiesen, dass er sowohl eiskalt als auch heißblütig explosiv reagieren konnte und YN malte sich bereits das schlimmste Ausmaß aus.

Das missbilligende Schnauben, welches ihm entfuhr, ließ sie zusammenzucken. Hisokas Handknöchel spannten sich an und ließen die Haut darüber weiß schimmern.
Instinktiv senkte YN ihren Kopf, um einem Gefühlsausbruch bestmöglich auszuweichen.

Was habe ich getan? Jetzt ist es aus...

"Dich trifft keine Schuld."

Völlig perplex hob sie ihren Kopf. Seine Stimme war bei seinen Worten ruhig und gefasst geblieben - beängstigend ruhig und gefasst. Sie suchte seinen Blick, dass ihre Augen sich treffen würden, doch Hisoka schaute in den Abendhimmel ohne etwas Bestimmtes zu fixieren.

Ihre größte Angst schien wahr geworden zu sein. Ruckartig stieß sie sich von Hisoka weg, der geistesabwesend die Augenbraue hob.

Sie wollte nachfragen, was das alles zu bedeuten hatte, doch ihre belegte Stimme verweigerte sich ihr. Das einzige, was sie zustande brachte, war ein verwirrter Gesichtsausdruck und dieser nützte ihr nichts, wenn ihr Liebster sich ihr entzog.

"Dich trifft keine Schuld", wiederholte er. Seine Stirn war in Falten gelegt und er kniff seinen Mund zusammen. "Er war es, der dich geküsst hat und nicht umgekehrt."

Unkontrolliert strömten Tränen über ihr Gesicht, sie wusste nicht, ob sie verwirrt oder dankbar um seine Aussage war. "Er hat mich zwar geküsst, aber vielleicht habe ich ihn provoziert." Die Worte verließen sie hastig, als wollte sie somit schnell aus dieser misslichen Lage entfliehen. "Ich wollte wissen, was bei deinem letzten Auftrag schief gegangen ist, ob du in Gefahr bist. Ich weiß, dass du zu Kantaro gegangen bist. Ich musste es wissen und du hast es mir nicht erklärt. Ich wollte es begreifen." Sie schlug schützend die Arme um ihren Körper, wie sie es bereits bei Chrollo getan hatte und wich seinem Blick aus.
" Ich will... Ich wollte stark sein. Ich wollte für dich stark sein. Ich wollte aus deinem Schatten heraustreten und kein Klotz am Bein sein."

Als sie geendet hatte, herrschte vollkommene Stille; sogar Yorknew City hielt den Atem an und lauschte. Die Kluft zwischen ihr und Hisoka war in YNs Augen unüberbrückbar geworden und alles hing von seiner Reaktion ab.
Er seufzte wehmütig. Seine bernsteinfarbenen Augen wirkten müde. War er es leid?

Hisoka richtete sich auf, seine Hand näherte sich ihrer Wange und aus dem Nichts holte er ihre Herzdame hervor. Er hielt ihr die Karte vors Gesicht. "Sag nicht sowas. Du bist mir wichtiger, als ich dich habe glauben lassen - leider. Ich will nicht, dass du schlecht fühlst, das bedeutet nämlich, dass ich als dein Freund versagt habe." Er beugte sich zu YN herunter, dass sich ihre Stirnen berührten.

"Verkauf dich nie wieder unter Wert, hörst du?", flüsterte er und schlang seine Arme fest um sie. "Ich lasse nicht zu, dass andere Menschen dir das Gefühl geben, du wärst nicht gut genug. Ich werde bei mir selbst anfangen." Sein Blick wurde weicher und sie merkte wie ihr ein Stein vom Herzen fiel.
"Du und ich, wir sind ein Team. Ich habe zwar die physische Stärke, aber ich brauche jemanden, der mich zu gegebener Zeit auf den Boden der Tatsachen bringt." Er lachte laut, dann küsste er ihre Tränen fort. "Aber jetzt lass uns hinein gehen, du bist schon ganz kalt."

Gelegenheit macht LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt