Der Wind heulte. Genau wie mein Inneres. Dieser Ort ist nicht für dich, säuselte er synchron mit meinem pochenden Herzen. Ich hatte sie mir etwas seichter vorgestellt, die Stimme des Windes. Auch die Wellengänge. Und die Temperaturen auch. Ich zog den Reißverschluss mit jedem dritten Schritt, den wir den bunten Häusern in der Ferne entgegen liefen, einen Zentimeter weiter hoch. Mikladalur, dachte ich, während sich mein Blick an die Handvoll Häuser vor mir krallte. Sie sahen aus, als wären sie Gott bei seinem Streifzug über dieses unberührte Stück Land aus Versehen aus der Hand gerutscht. Mikladalur, dachte ich, während Jarnos ständiges Grinsen meine ihm zugewandte Gesichtshälfte auftaute. Mikladalur, was bist du seltsam.
Jarno hatte schon nach dem Abitur vorgehabt, für eine Zeit lang im Ausland zu leben und zu arbeiten, aber sein Vater hatte seine Entscheidung nicht unterstützt. So lange er kein Geld verdiene und unter seinem Dach lebe, hatte er nicht nur einmal versucht, Jarno von seinen wagemutigen Vorhaben abzuhalten, werde er Jarno nicht in einen Flieger steigen lassen. Aber Jarno wäre nicht Jarno, würde er nicht für seine Träume kämpfen. Jarno hatte sich neben seinem Psychologie-Studium einen Nebenjob gesucht und seinem Vater erst vor zwei Wochen verkündet, dass er auf die Färöer Inseln fliegen würde. Mit mir, seiner Freundin. Jarnos Vater hatte Gabel und Messer zur Seite gelegt und seine Stirn war zu einer Welle geworden. In seinem Gesicht hatte Flut geherrscht.
Sein Gesicht war für eine endlos scheinende, Wellen schlagende Ewigkeit mein Spiegelbild gewesen. Auch mich hatte Jarno noch nicht in sein Vorhaben eingeweiht. Ich schaute von Jarno zu meinem Spiegelbild, immer hin und her. Bis eine Welle den Spiegel davon riss. Jarnos Vater fand Worte, während meine Lippen zu einem Strich vereisten.
„Du willst was?"
„Auf die Färöer Inseln." Da war etwas Triumphierendes in Jarnos Stimme gewesen. Jarnos Vater war aus dem Raum gegangen. Mit einem Stückchen Küchenrolle war er zurück gekommen. Ich musste lächeln bei der Vorstellung, dass er Jarnos Vorhaben von der Realität abtupfen wollte wie die Reste Spinat an seinem Mund. Um es dann in Küchenrolle gepackt zu entsorgen. Eine Weile hatte er in seinen Teller gestarrt, dann hatte er den Blick gehoben.
„Tu, was du nicht lassen kannst." Jarnos heimliches Grinsen war mir nicht entgangen.
Kalter Wind schlug mir ins Gesicht. Wie die Hand der Zukunft, die mich dafür bestrafte, meinem Freund in das Land seiner Träume gefolgt zu sein. Stille legte sich über uns. Ich konnte die zischende Stimme des Meeres hören, die das leise Knirschen unter unseren Füßen verdeckte. Und das Pochen meines Herzens. Wenn ich meinen lauten Puls wegdachte, hörte ich sie, die schäumende Stimme des Meeres. Dieser Ort ist nicht für dich.
„Glaubst du, das war eine gute Idee, hierher zu kommen?"
„Es war die beste Entscheidung deines Lebens, mit hierher zu kommen, Rikfa!" Als ich meinen Blick hob, hatte Jarno seinen schon längst wieder von mir abgewendet und auf das satte Grün gelegt, das vor uns lag und sich auf das von Bergen durchsetzte Landschaftsbild legte wie eine Decke. Die Dächer der beiden schwarzen Häuser neben uns waren völlig bemoost. Sie erweckten den Anschein, als wollten sie sich unter die Erde ducken. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ein Kurzlebiges.
„Hm?" Jarnos Rucksack hüpfte auf und ab unter seinen beschwingten Schritten. Ich wünschte, ich könnte meine Gedanken wie Steine aus meinem Herzen schmeißen und sie von Jarno aus dem Weg kicken lassen. Würde ich es dann schaffen, so sorglos zu grinsen wie er?
„Aber was, wenn unsere Gastfamilie komisch wird? Wenn ich irgendwie nicht mit ihnen klarkomme?" Ich hatte die Worte lange zurückgehalten, hatte sie vom Wind, der mir entgegen schlug, in den hintersten Teil meines Kopfes drücken lassen. Jetzt war es windstill.
„Dich nicht zu mögen ist eine Sache der Unmöglichkeit!" Jarnos Lippen auf meiner Wange. Sein Kuss drückte Wärme auf meine kühle Haut, Wärme in meine kühlen Gedanken.
„Wieso glaubst du das?" Ich tastete in der Ferne nach einem roten Haus. Dem Haus unserer zukünftigen Gastgeber. Über ein Onlineportal hatte Jarno mit Familie Einarsson Kontakt aufgenommen. Die vierköpfige Familie suchte eine Betreuung für ihre dreijährige Tochter Var und den sechsjährigen Sohn Jakup, die während der Arbeitszeiten der Eltern betreut werden sollten. Ein Funken Abenteuerlust sprang in mein Herz, als wir plötzlich von beiden Seiten von Mikladalurs farbenfrohen Häuschen eingeschlossen wurden. Und dennoch verfolgten mich die Zweifel auf Schritt und Tritt, allgegenwärtig wie das Brausen des Meeres. Es hatte Ähnlichkeit mit dem unablässigen Rauschen meiner Gedanken.
„Du machst dir echt einen Kopf, oder?" Jarnos Grinsen wurde breiter, ich musste ihn nicht ansehen, um das zu wissen. Nährte er sich von meiner Unsicherheit?
„Ich mache mir immer einen Kopf."
„Das stimmt allerdings." Unsere Blicke trafen sich, dann rutschte Jarnos Blick von meinen Augen in Richtung des 34-Seelen-Dorfes, das für drei Monate unser Zuhause sein würde. Die raue Natur vor unseren Augen war sicherlich viel leichter zu ertragen als mein zweifelnder Blick.
„Aber was du nicht vergessen darfst, Rifka..." Einzelne Strähnen seiner blonden Locken rutschten ihm ins Auge. Er pustete sie weg, kurz bevor der Wind ihm die Aufgabe abnahm.
„Unser Gastvater ist Polizist. Kriminalpolizist."
„Und das heißt?" Das Grinsen hielt sich nicht lange in meinem Gesicht.
„Das heißt, dass wir hier sicher sind. So sicher wie nirgendwo anders auf der großen weiten Welt."
Ein Schaf mähte aus der Ferne. Wie ein Ruf der Zustimmung. Als ich nur einen Tag später an diesen Moment zurückdachte, klang er ganz anders, der Schrei des Schafs. Wie ein langgezogener, penetranter Warnruf.
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Seelenschere
Mystery / ThrillerEin Mystery-Thriller, der auf den Färöer Inseln spielt