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Bloßes Entsetzen packt mich, als ich die Person erkenne, die vor meiner Tür steht. Und vor allem WIE diese Person aussieht.

Milas rechte Gesichtshälfte ist so geschwollen, dass sie wahrscheinlich weder etwas sehen noch etwas riechen kann. In einem tiefen lila ziehen sich die Blessuren über ihr Gesicht und gehen tiefer, bis sie von ihrem Pullover verdeckt werden. An einer Platzwunde an ihrer Stirn und einem Schnitt an ihrem Arm quillt rotes Blut hervor.

"Scheiße", fluche ich und packe kurzerhand ihren Arm um sie in die Wohnung zu bugsieren. Mit einem Knall fällt die Tür hinter uns ins Schloss. In Ermangelung einer anderen Sitzmöglichkeit lässt sie sich kraftlos auf meiner Matratze plumpsen.

"Schön hast du es hier." Sie grinst und ich schüttle den Kopf über so viel Dreistigkeit. "Wir müssen zu Earl", gestehe ich, sobald mir klar wird, dass ich weder einen Erste Hilfe Koffer habe, noch weiß, wie ich damit umgehen sollte, wenn einer hier wäre.

"Ein bisschen Eis reicht aus." Schulerzuckend tastet Mila über die Schwellungen in ihrem Gesicht. "Das bezweifle ich. Außerdem habe ich nicht einmal das. Hier gibt es weder Strom noch Wasser", stelle ich nüchtern fest und strecke ihr die Arme entgegen.

Mit einem schmerzerfüllten Ausdruck auf dem Gesicht lässt sie sich langsam wieder hoch ziehen. Milas Jeans ist zerrissen und dreckig. Das einzige, was sie gegen die Kälte trägt ist ein schwarzer, riesiger Kapuzenpullover, der mich nur vermuten lässt, dass ihr Gesicht nicht das einzige ist, was verletzt ist.

"Dann mal los." Sie streckt einen Daumen in die Höhe und ich frage mich, was ihr passiert ist. Was ihr passiert ist, dass sie, wenn sie verprügelt wird, so stumpft reagiert. So verdammt eigensinnig.

An Earls Tür angekommen verzieht sich sein überraschter Ausdruck zu einem erschrockenen, starren Gesichtsausdruck, den ich noch nie bei ihm gesehen habe. "Kommt rein, Mädchen."

Es dauert fast eine Stunde Milas Wunden zu versorgen. So gut es eben geht. Earls gemurmelte Flüche bringen Mila dazu ihr nicht zugeschwollenes Auge zu verdrehen und lassen den spöttischen Zug um ihre Lippen breiter werden.

"Ich hole kurz mein Handy, ja?" Ich gehe zur Tür und versuche nicht an die Wunden zu denken, die Mila an ihrem ganzen Körper trägt. Alte, schon verheilte Narben und neue Verletzungen, die sie für immer kennzeichnen werden. Ich habe mich nicht abgewandt, wollte ihr bestmöglichst beistehen und habe erfolgslos versucht die mörderischen Gedanken in Bezug auf den Täter zu verdrängen.

Die Wut, aber auch die Angst, um die ich nicht umhin komme, wenn ich die Wunden auf ihren Körper betrachte, werden mich so schnell nicht wieder los lassen. Den Schlüssel griffbereit betrete ich den Flur, der zu meiner Wohnugn führt. Nach wenigen weiteren Schritten sehe ich die offene Tür und höre schwere Stiefel, die durch meine Wohnung stapfen. Ich mache eine Kehrtwendung, noch bevor ich das wütende Schnauben und das darauf folgende Gerumpel höre. Ich zwinge mich nicht zu rennen, solange er einen Blick auf mich werfen könnte, wenn er die Wohnung verlässt.

Die Tatsache, dass ich Milas äußerst zornigem Stiefvater fast in die Arme gelaufen wäre, bedarf keiner weiteren Mutmaßungen. In Earls Wohnung angekommen, verschließe ich sorgfältig jedes der Schlösser an der Tür und übergebe mich, sobald ich den Rand der Toilettenschüssel erreicht habe.

Ich halte meine Haare zurück und Tränen laufen mir über die Wangen. Als ich mit zittrigen Beinen aufstehe und mir Hände und das Gesicht wasche, begegnet mir im Spiegel ein Paar stumpfer Augen, umrahmt von kalkweißer Haut und spröden Haaren. Die Furcht steht mir buchstäblich ins Gesicht geschrieben.

Earl und Mila warten zwar bis ich bereit bin, ihnen zu erzählen, warum ich wie eine Irre an ihnen vorbei gestürmt sind, mustern mich dabei aber mit besorgten Augen. Ich räuspere mich, halte meine eiskalten Hände unter warmes Wasser und halte den Blick gesenkt. "Mila, hast du dein Handy hier?", frage ich leise und sehe im Spiegel, wie sie den Kopf schüttelt.

Einerseits atme ich erleichtert aus, weil das bedeuetet, dass er sie nicht orten und uns damit hier finden kann. Andrerseits muss er dann aud einem anderen Weg an meine Adresse gekommen sein. "Wie kann es dann sein, dass er in meiner Wohnung ist?" Verzweiflung steigt in mir auf, als ich es ausspreche und versuche meine Panik zu verbergen.

Mila braucht nicht mal einen Sekundenbruchteil um zu verstehen, wen ich meine. Ihre Augen werden groß und auf dem unverletzten Teil ihres Gesichts bilden sich rote Flecken. "Es... es tut mir so leid", stottert sie unbeholfen. Zum ersten Mal sehe ich Tränen in ihren Augen aufblitzen. Zum ersten Mal scheint sie wirklich erschrocken zu sein.

"Nein", schreite ich ein, als sie nach ihrem Pullover greift und Richtung Tür gehen will. "Auf keinen Fall!" Der bestimmte und entscheidene Ton in meiner Stimme scheint sie fast so sehr zu überraschen wie mich. Ihre Brust hebt und senkt sich aufgebracht, während wir uns in die Augen schauen und sie abwägt, ob ich nachgeben könnte. Was nicht der Fall ist.

Es dauert lange bis sie seufzt, nickt und zurück ins Wohnzimmergeht. Sie lässt sich in dem Sessel nieder, in dem auchich bei meinem ersten Besuch in dieser Wohnung saß. Ein stummes Gut gemacht, Mädchen liegt in Earls Augen, als ich seinem Blick begegne. Ich blicke hinter mir auf die Tür und dann zu Mila. Kurzerhand entscheide ich, nach einem bestätigenden Nicken von Earl, die Tür auch von Innen abzuschließen. Sicher ist sicher.

Mila starrt gedankenverloren vor sich hin und scheint nichts um sich herum wahrzunehmen. Aber auf diese Empfindung will ich mich nicht verlassen. Earl bunkert den Schlüssel in seiner Hosentasche und ich gehe zum Herd um Tee zu machen.

Earl drückt im Vorbeigehen meine Hand und erschrickt als er fühlt, wie kalt sie sind. "An die Heizung", befielt er prompt. Mit einem Augenverdrehen, dass ihm deutlich machen soll, wie unnötig seine Überfürsorge ist, mache ich es mir mit einem Kissen und einer Decke auf dem Boden vor der Heizung gemütlich.

Earl bringt den Tee und setzt sich in seinen Sessel. "Also Tate, jetzt zu Wichtigerem. Wieso wolltest du dein Handy überhaupt holen? Die letzten Wochen hatten mich eher zu der Annahme verleitet, dass du dich über den Verlust deines Handy freuen würdest."

Ich rutsche unruhig auf dem Kissen hin und her und schlinge meine Hände fester um die Tasse. "Ich habe in Erwägung gezogen, mich mit Cole auszusprechen." Mit jedem Wort verliert meine Stimme an Kraft, bis nur noch ein Flüstern bleibt.

"In Erwägung gezogen? Hast du wirklich nur einen Moment geglaubt, dass du da irgendwie drum herum kommst?" Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen wirft er mir einen Ich-hab-es-dir-doch-gesagt-Blick zu.

Ich zucke nur mit den Schultern und eine lange Zeit sagt niemand etwas. Wir essen noch eine Kleinigkeit und dann legen Mila und ich uns auf das kleine Sofa, auf der eigentlich nichtmal eine Person Platz hätte. Mit einem vorsichtigen Lächeln wünschen wir uns eine gute Nacht.

Ich kann allerdings erst schlafen, nachdem ich noch ein paar Gedanken auf einen Schmierzettel gekritzelt habe. Er besteht nur aus zwei Sätzen.

Ich habe keine Panikattacke gekriegt. Ich habe die Kontrolle behalten.

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Was macht ihr aktuell (Schule, Ausbildung, Studium, arbeiten?) Wenn ja, was?

Habt ihr einen Traumberuf, denn ihr ergreifen würdet, wenn ihr alles machen könntet?

Ich wäre ja wirklich gerne hauptberuflich Autorin, aber ich bin auch realistisch genug, um einzusehen, wie gering meine Chancen sind. Aber träumen darf man ja ❤️

Never Falling Deeper | AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt