Kapitel 3

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Sascha sagte plötzlich: „Ich gehe in die Armee."
Sascha griff nach dem nächsten uralten Fassadenvorsprung, verfehlte zunächst, Sofias Herz setzte für einen Moment aus. Seine Hand krallte sich an einem aus dem Putz heraus ragenden Stück Eisengitter fest, er keuchte.
Sofia wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Doch auf einmal sagte sie etwas dazu, und zwar unvermittelt, ohne sich selbst darüber im Klaren gewesen zu sein:
„Ich komme mit."
Sascha lachte, irgendwie ein wenig verächtlich.
„Du bist zu jung."
Sascha zog sich über die letzte Kante nach oben, die Spitze war erreicht. Er schwenkte den Kopf einmal die ganzen 180 Grad, seine um den Kopf geschnallte Kamera zeichnete alles auf: Den roten Platz, die
Hochhäuser, die Straßen, alles etwa 80 Meter unter ihnen. Sofia klammerte sich in einem Kraftakt an die bröckelnde Mauer, wurde von Sascha hochgezogen, in eine relative Sicherheit. Es war noch sehr früh am Morgen.

Sofia reichte ihm die Hand, und er ergriff sie und zog sie nach oben zu sich auf das kleine, nicht vertrauenswürdig aussehende Plateau an der Spitze des Gebäudes.
Sofia drückte ihren Körper an Sascha, während sie da oben standen, es war kaum Platz für Beide, und die Aussicht genossen und fürchteten.
„Das mit Michajl tut mir übrigens leid."
Sascha umgriff mit einer Hand Sofias schmale Schultern, sie schmiegte sich ein wenig näher.
Sascha war ein Mitglied von Michajls Wohngemeinschaft und auch breiter gefasst seiner Straßenkinderclique. Sofia lernte ihn auf einem Deal kennen, als Michajl gerade aus seiner Miniaturwohnung am Stadtrand ausgezogen war und Saschas Clique beitrat.
Michajl hatte damals noch mit 17 schnell realisiert, dass ihn Prostitution und Drogenverkauf finanziell wesentlich weiter in Moskau bringen würden als die Auftragsschlägereien, für die ihn manchmal die
eine oder andere Terrorgruppe anheuerte.

Sofia musste ein wenig schmunzeln. Michajl war extrem beliebt gewesen. Er war ein charismatischer Heroindealer, vielleicht der Charismatischste, und auf dem Strich punktete er mit seinen schmalen
Schultern, tief ins Gesicht hängenden, braunen Haaren, kindlichen Teddybäraugen, und einem kitschigen, für das Wetter zu freizügigen
Outfit. Michajl war nicht schwul, aber wenn es das war, was ihm Geld für Essen und die Spardose einbrachte...

Sofia flatterte eine leichte Brise Nieselregen ins Gesicht wie eine nasse Taube und brachte sie zu Sascha zurück.
„Ich hab dir für heute Abend einen Escort-Job organisiert, mit einem Kerl, der könnte dir gefallen."
Sascha lachte wie jemand, der auch über einen Toten lachen würde, und Sofia fühlte ein knotiges Ziehen im Bauch, als hätte sie gerade etwas Widerliches verschluckt.
Sofia hatte sich wenig später nach Michajl in das Business eingliedern lassen. Sie wurde von diesen Menschen vor der Polizei beschützt, die immer noch die Tochter eines Armeegenerals und einer Wirtschaftsnutte des Präsidenten suchten. Sie suchten vergeblich.
Die Sofia von damals war verschwunden. Sie war mysteriöser denn je. Sie verführte Jungs, und Mädchen, erkletterte in ihrer Freizeit illegalerweise die Top 100 baufälligsten Gebäude ihrer Stadt, stellte
Videos ins Internet, verkaufte Drogen und sich selbst, und bereute von ihren Taten nichts, sie stürzte nie ab, man trug sie auf Händen in ihrer Szene aus Lug, Betrug und Mord, die sie nie so kennengelernt
hatte, wie sie wirklich war, noch nie. Sofia war die Prinzessin der Obdachlosen, und das wusste sie besser als jeder andere.
Sascha räusperte sich.

„Wollen wir den Abstieg wagen?"
Er drückte Sofia besonders fest, als er das sagte, und sie glitt ihm geschmeidig aus dem Arm, auf die Plattform zwei Meter unter ihnen springend.
„Unsere Gruppe schrumpft."
Sofia nickte, als Sascha das sagte und ihr hinterhersprang, von der Fassade rieselte Staub, wie eine leise Gefahr.
„Was denkst du, warum Krieg ist?"
Sofia betrachtete den Horizont und die Blinklichter der Skyline im morgendlichen Regenschleier, dann sprang sie ein Stockwerk tiefer auf ein angrenzendes Fabrikgebäude, Sascha folgte ihr, als wäre es sein
Lebenssinn.
„Wegen dem Menschsein."
Nacheinander kletterten sie durch eine fenstergroße Öffnung in das Innere der baufälligen Sowjetfabrik. Das Dach war teilweise schon eingebrochen, die Etagen waren nicht mehr wirklich auszumachen, weil
die meisten Fußböden eingebrochen und abgestürzt waren über die Jahre, und Sofia genoss für einen Augenblick die Aussicht, die sich ihr bot.
Durch die Löcher in der Fassade und Decke erblickte sie die Hochhäuser des Kreml, zwei der Stalinbauten, majestätisch alles überragend. Die Sonne würde bald aufgehen.
Dann hielt sie inne und fokussierte ihren Blick in die Ferne. Was war das?

SofiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt