Gebannt starrte sie auf das zerknitterte Gesicht des Mannes ihr gegenüber. Darauf bedacht, keinen Moment zwischen ihnen zu verpassen. Das kleine Café, in dem sie beide sich einen Platz direkt neben einem großen Fenster sucht hatten war wenig besucht. Heruntergekommene Sitze, unmotivierte Kellner und der hartnäckige Geruch von modriger Einrichtung aus dem letzten Jahrhundert hielt die Leute fern. Bis auf sie beide. Eine Studentin, die eigentlich für ihre Klausuren lernen musste und ein alter Mann, der unangenehm nach Urin und Erbrochenem stank, dessen Kleidung zerrissen war und das Haar verfilzt. Sein Gesicht war gezeichnet von vielen harten Jahren auf der Straße, Narben und dunkle Flecken zeichneten sich auf der gegerbten Haut ab. Als sich seine buschigen Augenbrauen nun hoben und seinen Blick auf sie freigaben, konnte sie den Schmerz und die Scham darin erkennen.
"Haben Sie einen Namen?", fragte die junge Frau in aller Ruhe und schloss die kalten Hände um den warmen Kaffeebecher. Der Mann zuckte langsam und schwerfällig mit den Schultern und senkte dann den Blick. Als müsste er all das Leid der Welt auf seinen Schultern tragen. Als hätte er die schwerste Aufgabe von allen. "Dann nenne ich Sie ab jetzt Herr Namenlos. Ist das in Ordnung?" Wieder ein Schulterzucken.
Die Studentin atmete tief ein und aus, blies den Damp ihres Getränks hinfort. Es war später Herbst. Die Halloween Dekoration schmückte die Straßen und rote Blätter pflasterten die feuchten Straßen. In wenigen Stunden würden unzählige kleine Hexen und Gespenster durch die Straßen laufen und mit einem Grinsen unter der Schminke nach Süßigkeiten fragen. "Ich liebe den Herbst. Es ist die Zeit im Jahr, in der die Natur sich auf den Winterschlaf vorbereitet und die Straßen bedeckt sind von sterbenden Blättern. Ist es üblich, dass alles im Sterben begriffene von größerer Schönheit ist, von größter Reinheit, als müsse das Leben im letzten Moment noch einmal zeigen was man durch den Tod zurücklässt? Denn so ist es mit den Blättern, oder Herr Namenlos?", fragte die junge Frau und sah wieder zu ihrem Gegenüber. Der Mann schaute sie nur stumm an und der Studentin schien es, dass sein Gesicht nun noch faltiger war als zuvor. Das rechte Auge war weiß und blind, und war doch so voller Ausdruck, als er nun den Kopf wandte und ebenfalls für einen Augenblick hinaussah. Er verstand. Müde verirrte sich sein Blick kurz in dem farbenfrohen Spektakel und wandte dann zurück zu der jungen Frau.
"Ja, das Sterben... irgendwann erwischt es uns alle. Einige früher und andere später.", überlegte die Studentin laut und unzufrieden. Ihre Gedanken schweiften ab zu dem Erlebnis, das sich ihn unwiderruflich in den Kopf gebrannt hatte. Der Geruch von brennendem Gummi, Schmerzensschreie, knirschendes Metall auf Asphalt. "Aber warum heute? Warum so schrecklich, Herr Namenlos?" Seine Augen gaben keine Antwort auf die Qual, die er und sie erlebt hatten. Er schien so viel und doch nichts zu wissen von dem, was sie da fragte. Aber die Studentin nahm ihm sein Schweigen nicht übel. "Ich komme nicht drum rum, mir immer wieder die gleichen Fragen zu stellen. Musste er sterben? Hätte er gerettet werden können? Und warum war ich da, warum heute? Warum gerade zu dieser Zeit, auf dieser Straße? Stellst du dir auch solche Fragen, oder ist für dich alles beantwortet, Herr Namenlos?" Sie musterte wie sich sein Gesicht unmerklich verzog, sie wollte sich daran klammern wie eine Ertrinkende. Der Mann hatte den schmalen, rissigen Mund zu einer bitteren Linie verzogen. Hatte sie zu viel gesagt? Das Falsche? "Nein", antwortete er einsilbig und seine Stimme klang rau. Wie das Grollen eines Donners, oder das Knurren eines Hundes. Und obwohl dieses Wort nicht im geringsten beantwortete, was sie gefragt hatte, war es Antwort auf alles, was sie nicht gefragt hatte. Die Studentin lächelte freudlos und senkte den Blick.
Der Schaum auf ihrem Kaffee hatte sich langsam aufgelöst, der Dampf war fast verschwunden und nur doch ein flacher Nebel über einem cremigen Meer. "Und dann warst du da...", sagte sie, als wäre es das Ende eines langen Gesprächs, dass nie geführt wurde. "Ich weiß, dass es kein Zufall war." Und trotzdem erinnerte sie sich nur schemenhaft an den ersten Moment als er sie gesehen hatte. Wie er da saß, auf seinen Zeitungen, eingehüllt in einen dreckigen Schlafsack, neben der geschlossenen Tür eines Ladens. Sie hatte seinen Blick aufgefangen kurz bevor der Aufprall die Welt erschütterte. Bevor sie auf der Straße landete, sich Knie und Hände aufschürfte und ihr Kopf mit einem dumpfen Schlag auf den Boden aufkam.
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Ein Kaffee mit dem Tod
Short StoryWas, wenn du den Tod auf einen Kaffee einladen könntest? Würde es etwas verändern?