Begegnung

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"Was soll das werden Hyung?", kam ich direkt auf den Punkt, als ich aus der U-Bahn kam und Jin direkt an der Treppe auf mich wartete. Er lächelte nur und ich schlug zur Begrüßung ein. Er war einer der wenigen, die nicht unter der Woche mitfeierten sondern nur am Wochenende, was wohl daran lag, dass er sein Geld selbst verdiente und es sich nicht leisten konnte seinen Job zu verlieren. Was dazu führte, dass ich in der Regel auch nur an Wochenenden wieder zu Hause aufwachte. Er war derjenige, der mich immer nach Hause brachte und nicht mal ich wusste, wie viel ich ihm erzählt hatte, über das er nie ein Wort verlor. Ich schuldete ihm praktisch mich mit einem 'Komm einfach' durch die halbe Stadt zitieren zu lassen ohne Fragen zu stellen. Stellen tat ich sie trotzdem.

Er lachte auf und zog eine Packung Filter aus seiner Jackentasche. "Auch eine?", wollte er wissen und klemmte sich das kleine weiße Teil zwischen die Lippen. Ich nickte, stopfte meine Hände in die Taschen meines Mantels und wartete schweigend. Er hatte ein Talent dafür Fragen zu ignorieren, die er nicht beantworten wollte. Eigentlich war ich nur Partyraucher, aber wenn man so oft feierte wie ich machte es irgendwie auch keinen Unterschied mehr. Ich zündete mir diese lächerlich perfekt gedrehte Zigarette an und nahm einen Zug. "Und was machen wir jetzt hier?", kam ich wieder auf den Punkt. "Rauchen", entgegnete er stumpf. Alles klar. Er musste wohl merken wie genervt ich war. "Entspann dich man, ist nur ne Geburtstagsüberraschung", schmunzelte er und hüllte sich damit immer noch in schweigen. "Kannst mir später danken", schob er hinterher und zog sein Handy raus. "Wofür?", manchmal war er echt anstrengend. "Wenn ich es dir sage, ist es keine Überraschung mehr", zwinkerte er mir verschwörerisch zu. Woher wusste er überhaupt wann ich Geburtstag hatte? Nicht mal mir war das aufgefallen, es gab niemanden, der sich meldete. Für meine Familie war ich eine Enttäuschung und meine Freunde ließen mich besoffen irgendwo liegen, das sprach eigentlich für sich. Jin ließ seufzend seine Zigarette fallen und sah mich an. "Alles klar ich muss", verabschiedete er sich. Sein scheiß Ernst? Und was sollte ich dann jetzt hier? Frustriert stieß ich den Rauch aus. Ich hasste Überraschungen, die waren nie gut.

Er schlug nochmal mit mir ein und klatschte mir dabei einen Gutschein in die Hand. Zwei mal Nudeln zum Preis von einem. Was sollte ich mit einem Gutschein? Als ob ich zwei Portionen Nudeln esse. "Was soll das?", rief ich ihm nach, da er schon auf dem Weg die Treppe runter war. Wieder lachte Jin einfach nur auf. "Geh einfach was essen!", meinte er locker und setzte seinen Weg fort. Für wen hält der mich? Was wäre das überhaupt für eine Zeit zum Essen es war gerade mal fünf Uhr nachmittags. Andererseits hatte ich heute noch nichts, weil mir die letzte Nacht noch in den Knochen steckte. Was auch immer ich getrunken hab, es war wieder zu viel gewesen. Und das war gut so. Nudeln also. Ich fischte mein Handy aus der Manteltasche und suchte nach dem Laden. Gleich hier um die Ecke, deshalb hatte er mich also extra herbestellt.

Ich rauchte auf und machte mich auf den Weg, bog um besagte Ecke und lief an einem Typen vorbei, der aussah wie Jungkook. Irritiert drehte ich mich um und blieb dann stehen. Das war Jungkook. Er lehnte da an der Wand, eine Hand in seiner Bomberjacke und sah lustlos auf sein Handy. Was machte er hier? Wartete er auf jemanden? Der kleine Pappstreifen in meiner Hand wurde seltsam schwer, genau wie das beklemmende Gefühl in meiner Brust. Wie es ihm wohl geht? Sollte ich ihn einladen? War das seltsam nach so vielen Jahren? Vor einem halben Jahr im Frühling waren wir auch einfach auseinander gegangen. Er wollte mich nicht wieder sehen. Und ich wollte es auch nicht. Ich hatte versucht diese Begegnung zu vergessen, doch sie kreiste mir nur immer wieder im Kopf rum. Und jetzt stand ich hier wie ein Idiot und starrte ihn an. Etwas hielt mich fest, ich konnte nicht weiter gehen, aber auch nicht umdrehen und ihn ansprechen.

Würde er mich überhaupt erkennen? Wäre es nicht besser wir würden einfach Fremde bleiben? Mit der Erinnerung an damals, die Entäuschung der Gegenwart einfach vermeiden? Ich war sicher eine Enttäuschung. Damals hatte ich die Noten und Motivation Anwalt zu werden. Mein Leben war nichts mit dem man versucht alte Kontakte aufleben zu lassen. Ob er einen Job hatte? Ausgezogen ist? Ich hatte mich das immer gefragt. Viereinhalb Jahre dachte ich darüber nach, was er wohl so machte. Das Band, das wir hatten, war nie eingerissen, nicht für mich, aber irgendwie hatten wir uns trotzdem verloren. Jetzt war ich mir nicht sicher, ob es noch existierte oder dieses Gefühl meinen Erinnerungen entsprang. Es kam mir vor als hätte ich ihn im Stich gelassen. Ich wusste so viel und hatte mich nicht mehr gemeldet. Und er sich auch nicht.

Was wenn er mich nicht mehr um sich haben wollte? Wenn sein Leben gut läuft? Vielleicht hat er inzwischen bessere Freunde gefunden, vielleicht würde ich nur stören. Er hat sicher besseres zu tun, Probleme und Sorgen, die wichtiger waren als ich. Was wenn er mich vergessen hat? Und was wenn nicht? Was wenn er sich auch Sorgen um mich machte? Was wenn er Hilfe braucht? Jemanden zum Reden? Was wenn seine Freunde noch so beschissen sind wie vor einem halben Jahr? Was wenn ich gerade den gleichen Fehler machte wie damals? Ich wusste es nicht und ich würde es auch nicht wissen, wenn ich nur hier herum stand. Aber wollte ich es wissen? Wollte ich herausfinden wie fremd wir uns geworden sind? Viereinhalb Jahre. Wollte ich wissen, ob er mich gebraucht hätte? Wollte ich heruasfinden wer er inzwischen war? Was sollte ich erwarten? Vielleicht verstanden wir uns nicht mehr... Würde es irgendeinen Unterschied machen?

Ich hatte diese seltsame Hoffnung. Dieses Band das noch immer bestand. Er war mir befremdlich vertraut, obwohl er offensichtlich nicht mehr der Junge von damals ist. Trotzdem schien er immernoch bereit sich in Schlägerein verwickeln zu lassen. Er sah besser aus als damals in der Zelle, weniger lädiert. Er war nüchtern und ich war es auch. Vielleicht verstanden wir uns, vielleicht auch nicht. Dann konnte ich mich später wieder in den dumpfen Schleier des Vergessens trinken. Ich hatte einen Gutschein und Jungkook vielleicht gar keine Zeit. Aber ich hatte nichts mehr zu verlieren. Mein Leben war ein Kreis aus Partys und bitterer Enttäuschung. Wenn er nichts mehr von mir wissen wollte, dann wäre es genau wie jetzt. Ich würde mir den Verstand wegfeiern, vielleicht in einer Ausnüchterungszelle landen und mein Leben einfach weiter verschwenden. Ich wäre eine Enttäuschung für meine Eltern und dann auch für Jungkook. Manchmal kam es mir vor, als würde die ganze Welt nicht an mich glauben. Einer mehr oder weniger machte keinen Unterschied. Es konnte nur besser werden oder scheiße bleiben.

Er starrte immer noch gelangweilt auf sein Handy und schenkte seinem Umfeld keine Beachtung. Plötzlich war er irgendwie einschüchternd. Als würde er die Leute allein mit seiner Ausstrahlung davon abhalten ihn anzusprechen. Ich presste unschlüssig die Lippen aufeinander. Der kurze Motivationsschub schwand drastisch unter dem seltsamen Druck unbestimmter Erwartungen. "Jungkook?", brachte ich gerade so noch unsicher hervor. Er hob mit suchendem Blick den Kopf und ich machte nun doch ein paar vorsichtige Schritte in seine Richtung. Sein Blick fiel auf mich und seine Brauen wanderten ein kleines Stück nach oben. Ich hatte keine Ahnung, ob er überrascht war, mich erkannte oder einfach wissen wollte, wieso ich ihn ansprach. "Erinnerst du dich noch an mich?", ich brachte gerade mal ein zaghaftes Lächeln zustande. Es würde mich nicht einmal wundern wenn nicht. Trotzdem machte es mich nervös. Jetzt wo ich mich getraut hatte, hatte ich eine heiden Angst. Sein Blick war viel bohrender als damals. "Taehyung?", Jungkook musterte mich nocheinmal als müsse er sicher gehen und stieß sich dann von der Wand ab und kam zu mir rüber. "Lange nicht gesehen...", stellte ich unbeholfen fest.

"Wie geht's dir?"
"Hast du ein bisschen Zeit? Ich hab einen Gutschein..."
"Zwei zum Preis von Einem?"
"Ja...?"
"Okay."

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