Aller Anfang ist schwer

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Seufzend schlug ich das Deutschbuch zu. Endlich hatte ich dieses dumme Gedicht fertiggelesen. Der Zauberlehrling. Nur Geschwafel, wenn man mich fragt. So einen Quatsch wie Gott, Magie und übermenschliche Kräfte gibt es doch nicht.

Ich stellte das Buch zurück ins Regal und setzte mich an meinen Schreibtisch zurück. Ich nahm mir meinen Skizzenblock und begann eine neue Zeichnung. Gedankenverloren kritzelte ich mit dem Bleistift und nach und nach entstand das Gesicht eines jungen Mannes, dass von Locken umrahmt wurde. Ich strich mir eine Strähne meiner schulterlangen, blonden Locken hinters Ohr, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte, seufzte und stand wieder auf.

Ich schnappte mir meine Gitarre, setze mich auf mein Bett und begann einen meiner eigenen Songs zu spielen.

Dieser Mann tauchte in letzter Zeit oft in meinen Zeichnungen auf. Woher kannte ich ihn bloß?

„Kaya Skye Harper, komm auf der Stelle herunter!", tönte es aus dem Erdgeschoss.

Oh-oh! Das klang gar nicht gut.

Seufzend stand ich auf und lief langsam die Treppe hinunter. Unten stand bereits Miss Dots, meine neue Nachhilfelehrerin neben Susan, der Heimleiterin. Vorsichtig ging ich ihnen entgegen.

„Was ist los?", fragte ich.

„Was los ist? WAS LOS IST?!", aufbrausen schritt Susan mir entgegen.

„Du hast SCHONWIEDER in Deutsch eine 6, lernst du denn überhaupt nichts? Du unnützes Ding! Miss Dots verzweifelt auch schon so langsam an dir. Du solltest dich schämen!"

Während ihrer Schimpftirade war ich immer mehr in mich zusammen gesunken. Ich konnte doch nichts dafür, dass ich so schlecht war. Immer, wenn ich einen Text las, verschwammen die Buchstaben vor meinen Augen und bildeten sinnlose Wörter. Außerdem konnte ich mich einfach sehr schlecht konzentrieren. Immer schweiften meine Gedanken ab, und ich bemerkte nicht mehr, was um mich herum passierte.

„Du gehst heute ohne Abendessen ins Bett. Jetzt verschwinde in dein Zimmer und mach etwas Nützliches!"

Mit diesen Worten drehte Susan sich um und ging in die Küche. Miss Dots folgte ihr, nicht ohne mir ein hämisches Grinsen zuzuwerfen. Diese Frau hasste mich!

Wütend machte ich auf dem Absatz kehrt und stürmte die Treppe hoch, zurück in mein Zimmer.

Die Tränen zurück haltend, fasste ich einen Entschluss.

Ich würde abhauen, noch heute.

Ich schnappte mir meine alte Umhängetasche und packte ein paar alte Shirts und Hosen, Unterwäsche und zum Schluss noch meinen Skizzenblock und die Bleistiftstummel hinein. Dann zog ich mir einen schwarzen Kapuzenpulli an und die Kapuze über den Kopf, schnappte mir Umhängetasche und Gitarre und kletterte aus dem Fenster.

Mittlerweile war es Nacht geworden, und so bemerkte niemand, wie ich aus dem kleinen Fenster im ersten Stock sprang, mehr oder weniger weich landete und im Schatten der nächsten Hauswand verschwand.

Ich drehte mich nicht noch einmal um zu dem Haus, in dem ich meine 15 mickrigen Lebensjahre bisher verbracht hatte.

Zügig lief ich die Straße runter, mein Ziel, ein kleiner Park in der Nähe, in dem ich so einige gute Verstecke kannte.

Auf dem Weg begegnete ich nicht vielen Menschen.

Im Park überlegte ich kurz zwischen dem Busch- und dem Baumversteck, entschied mich dann aber für den Baum, da ich mich da oben einfach sicherer fühlte. Also kletterte ich so hoch es ging, und machte es mir in einer Astgabel ein bisschen bequem. So langsam merkte ich, wie mir die Augenlider schwer wurden, und ehe ich mich versah, war ich schon eingenickt.

Kaya Skye HarperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt