Kapitel 19 - Das Missverständnis

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"Vielleicht sollte ich wieder nach Hause", sagte Steffi und lief im Wartebereich auf und ab wie ein Tiger in seinem Käfig. Sie machte sich furchtbare Sorgen um die Kinder, so viel war klar. "Sylvia kann nicht ewig auf sie aufpassen. So wie ich Luca kenne, macht er bestimmt seine Hausaufgaben nicht. Und Niklas braucht dringend 'ne Ablenkung von dem Ganzen Rummel. Du weißt ja wie er sich immer alles zu Herzen nimmt. Und Hannah--"

"Hey, immer mit der Ruhe." Andreas legte seiner Frau die Hände auf ihre Schultern und sah ihr tief in die Augen. "Jetzt atmest du erstmal tief ein."

"Andreas--" Genervt, versuchte Steffi sich zu befreien, doch Andreas ließ nicht locker. 

"Tief ein", wiederholte er stur und machte einen theatralischen Atemzug, bevor er die Luft ebenso laut wieder durch die Nase ausstieß. "Und wieder aus. Komm, das sieht bescheuert aus, wenn ich es alleine mache." 

"Das sieht so oder so bescheuert aus," beschwerte sie sich aber er konnte ein klitzekleines Lächeln in ihrer Stimme hören, auch wenn sie sich alle Mühe gab, es zu unterdrücken. Sie blieb stehen und ließ die Schultern sacken.

Sie machte einen tiefen Atemzug. Dann noch einen. 

Andreas lehnte sich nach vorne, bis seine Stirn ihre berührte. "Besser?" 

Anstatt zu antworten, presste sie einen sanften Kuss auf seine Lippen. 

Seine Augen schlossen sich. Er konnte sich nicht erinnern, ob sie sich überhaupt schon ein einziges Mal richtig geküsst hatten, seit sie und Mama im Krankenhaus aufgetaucht waren. Doch nun war da Steffi's Wärme und das vertraute Gefühl ihrer Lippen auf seinen als er seine Arme fester um ihre Taille schlang. Und er wollte sie am liebsten gar nicht mehr loslassen. 

Ein leises Räuspern zog sie beide aus dem Bann. Steffi löste sich aus der Umarmung und Andreas blickte in das amüsierte Gesicht seiner Muttern, die ihnen beiden einen dampfenden Kaffee entgegenstreckte. "Lasst euch von mir nicht aufhalten."

Andreas grinste. "Na, wenn das so ist." 

Er zog Steffi spielerisch zurück in seine Arme. Doch der Moment war gebrochen und Steffi wandte sich immer noch lächelnd aus seinem Griff. "Andi, hör auf" lachte sie und nahm dankbar den Kaffee entgegen, den ihr Mama gebracht hatte. "Ich denke trotzdem, dass ich wieder nach Hause fahren sollte. Jemand sollte bei den Kindern sein. Die sind bestimmt krank vor Sorge."

"Vielleicht können wir ja alle gemeinsam zurück, jetzt wo es Chris wieder besser geht?" schlug Mama vor. "Die Physio kann er doch überall machen. Dazu braucht er ja nicht ausgerechnet hier bleiben, oder?" 

Während Steffi und Mama sich unterhielten, machte Andreas ein paar Schritte auf Chris' Tür zu. Er legte die Hand auf den Knauf und zog ganz vorsichtig - so dass man es kaum hören oder sehen konnte - die Tür einen Spalt breit auf, um nach innen blicken und lauschen zu können. 

"Nein, versprochen. Das wird wieder und jetzt hört auf euch Sorgen um mich zu machen, ja?" Chris versuchte tapfer für die Kids zu sein, doch Andreas konnte in seiner Stimme hören, wie nah ihm das Ganze ging. "Hey, hör auf zu weinen, Süße, okay? Mir gehts doch gut... Hannah, hey, Mäuschen...aww, hör bitte auf--" Chris' Stimme zitterte. Es schien völlig egal zu sein was er sagte, denn die Kids waren wohl alle drei völlig aufgelöst. "Nein, hey... nein. Ich werd nicht sterben so wie Opa. Das... das war anders mit ihm."

Andreas schloss die Augen als ein Schmerz sein Herz durchfuhr.

Er ließ den Kopf rücklings gegen den Türrahmen fallen und biss sich hart auf die Unterlippe um sich selbst davor zurückzuhalten loszuheulen.  

"Aww, Luca, hör mal. Ihr könnt nicht einfach alles glauben, was im Internet geschrieben wird, okay? Das sind nur irgendwelche Leute die Geschichten erfinden. Jetzt nehmt eure Schwester mal in den Arm und hört mir gut zu, okay?" Chris nahm tief Luft und ließ sie dann wieder durch die Nase entweichen. Er sah völlig zermürbt aus, so als würde es ihm das Herz zerreißen, die Kinder so verzweifelt zu hören und zu wissen, dass er der Grund für ihre Tränen war. "Ich hab Scheiße gebaut und mich verletzt. Mein Bein hats ziemlich doll erwischt und ein paar Narben werden bleiben, aber mehr ist es nicht. Ihr werdet schon sehen. Bald bin ich wieder zu Hause und alles ist beim alten."

Andreas hoffte so sehr, dass das stimmte.

Die Kinder würden sich wohl erst wieder  völlig beruhigen, wenn Chris zu Hause war. 

Und jetzt wo die Presse sie hier auch noch belagerte, gab es kaum noch einen Grund in Emden zu bleiben. Nein, sobald es Chris etwas besser ging, würde Andreas mit den Ärzten reden und eine Verlegung in ein anderes Krankenhaus beantragen.

Es war an der Zeit, nach Hause zu fahren. 

Anders Als Man DenktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt