Kapitel 21 - Die Idee

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Drei Monate später und Chris konnte wieder fast alle Dinge genauso machen wie vor dem Unfall. 

Er hinkte noch leicht beim gehen und zu seiner unendlichen Frustration, konnte er viele Sportarten noch nicht wirklich ausüben, aber die Ärzte waren zuversichtlich. 

Chris hatte das erste Monat bei ihnen im Gästezimmer verbracht, damit sie ein Auge auf ihn halten konnten, doch nachdem er immer selbstständiger wurde und auch seine Hand wieder ganz normal benutzen konnte, entschloss er sich zurück in sein eigenes Haus, das nur eine Ortschaft entfernt von Andreas war, zu ziehen. 

Dann fing er langsam an wieder regelmäßig in der Werkstatt aufzutauchen. 

Andreas hätte damit rechnen müssen.

Er kannte seinen Bruder gut genug, um Chris' Ungeduld zu bemerken und die Anzeichen dafür wahrzunehmen, was als nächstes kam. 

Dennoch war Andreas völlig unvorbereitet als Chris ihn schließlich konfrontierte. "Wir sollten langsam mit Max wegen einer neuen Tour sprechen, findest du nicht?" 

Andreas blickte nicht von seiner Werkbank auf, wo er gerade an einer neuen Technik für einen alten Trick feilte. Innerlich, machte sein Herz einen Aussetzer. "Denkst du nicht, dass das ein bisschen zu früh ist?" 

"Zu früh? Andreas ich war fast ein halbes Jahr außer Gefecht gesetzt. Die Fans sitzen immer noch auf den Tickets für die Shows die wir Anfang des Jahres abgesagt haben." 

"Ja schon, aber--"

"Ich sage ja nicht, dass wir eine neue Show brauchen. Wir können alles beim alten lassen und einfach da weitermachen wo wir aufgehört haben," schlug Chris weiter vor und spielte sich mit einem von Andreas' öl-verschmierten Schraubenschlüsseln. Er schien nicht zu bemerken, wie angespannt Andreas war und wie sich die Mine seines Bruders zunehmend verfinsterte. 

Andreas war nur in der Werkstatt, weil er einen Ausgleich brauchte, weil er manchmal ein bisschen aus dem Haus kommen und sich nützlich machen wollte. Aber an eine neue Show wollte er noch nicht mal denken. Zu eindringlich war die Erinnerung an ihren letzten Auftritt, an Chris, halbtot, auf der Bühne. Eine Krone aus Blut, die sich langsam um ihn ausbreitete, die panischen Mitarbeiter, die auf Andreas einredetet, die Sanitäter, die ihn gewaltsam zurückhalten mussten, während Chris einfach--

"Sag mal hörst du mir eigentlich zu?" fragte Chris genervt und schnippte mit den Fingern um Andreas' aus seinen Gedanken zu reißen. "Worauf willst du denn warten?"

Andreas sprang von seinem Hocker auf und warf sich wütend das ölige Tuch über die Schulter. Er hatte einen Blaumann an, war unrasiert, hatte kaum geschlafen. Nachts wurde er oft wach, schweißgebadet und keuchend, mit Tränen in den Augen und dachte dass er zurück auf dieser scheiß Bühne war. Und in seinen Träumen war Chris genauso regungslos, genauso stumm, nur mit dem einzigen Unterschied, dass die Sanitäter in nicht in den Krankenwagen einluden. Weil er tot war. Genick Bruch. Zwei Zentimeter weiter nach Links und der scheiß Traum wäre jetzt Wirklichkeit.

"Ey, sag mal, was ist eigentlich dein Problem, Andreas?" fragte Chris gereizt als er merkte, dass sein Bruder nicht wirklich auf den Vorschlag einging. Oder sonst irgendwie reagierte.

Und das war einfach zu viel. 

Andreas wirbelte herum und packte Chris am Kragen. 

"Was mein Scheiß Problem ist?" wiederholte er ungläubig. Sein Atem ging schwer als er die Finger in die Jacke seines Bruder krallte. Chris' Augen weiteten sich, doch er versuchte gar nicht erst sich aus Andreas' Griff zu befreien, stand einfach nur da und steckte das Kinn raus. So als wüsste er genau, dass das hier längst überfällig war. Dass der ganze Frust und Ärger der letzten Wochen und Monate endlich mal raus musste. "Was mein beschissenes Problem ist?"

"Ja", forderte Chris scharf und tippte mit seinem Zeigefinger gegen Andreas' Schläfe. "Sag mir einfach was da oben vorgeht."

Andreas lachte. Aber es war kein schönes Geräusch. Nicht so wie sonst, wenn er damit einen ganzen Raum ausfüllte und die Gesichter der Kinder zum Strahlen brachte. Nein, diesmal war es ein bitterer Klang. Ein Laut der Verzweiflung. Der Enttäuschung. 

"Sag mal checkst du eigentlich gar nichts mehr? " stieß er ungläubig hervor. "Vor ein paar Monaten wärst du fast gestorben! Du könntest verdammt nochmal tot sein. Dein ganzes Bein ist voller Platten und Schrauben, scheiße, Chris, da ist vermutlich mehr Metall drinnen, als in unseren ganzen Illusionen zusammen, und du stehst da und willst ne Tour machen? Hast du sie eigentlich noch alle?"

Chris' Atem ging schwer. 

Andreas ließ von ihm ab und ballte die Finger zu Fäusten. 

Sie hatten sich noch nie geprügelt. Noch nicht mal als Teenager, als sie sich einmal in das selbe Mädchen verguckt hatten. Dazu standen sie sich viel zu nahe. Aber jetzt gerade in diesem Moment, hatte Andreas Schwierigkeiten sich zurückzuhalten. 

"Der Arzt hat gesagt--" 

"Aber darum gehts mir gar nicht," unterbrach ihn Andreas ungeduldig. "Mir ist scheiß egal was der Arzt gesagt hat. Denkst du dadurch werd ich die Bilder in meinem Kopf los? Wie du da einfach liegst? Halb tot?" 

"Andreas..." 

"Manchmal wach ich nachts auf und seh dich da liegen, Chris. Und ich leg meine Hand an deinen Hals um den Puls zu checken. Aber da ist keiner... da ist kein Herzschlag." Andreas hatte wieder Tränen in den Augen. Er starrte hinauf, an die Decke der Werkstatt, irgendwo hin, nur nicht zu Chris. "Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie das für mich war, dich da so liegen zu sehen? Zu glauben du wärst tot...", gab Andreas zerknirscht zu und schüttelte über seine eigene Schwäche den Kopf. Er wischte sich wütend über die nassen Wangen. "Ich kann dir nicht dabei zusehen, wie du in den Scheiß Truck steigst, okay? Ich kann dich nicht mal auf der Scheiß Bühne stehen sehen. Weil dann einfach alles wieder hochkommt."

"Bruder..." Chris machte einen Schritt auf ihn zu, versuchte ihm eine Hand auf die Schulter zu legen, aber Andreas wich der Berührung aus. Er schüttelte weiter den Kopf, konnte sich kaum beruhigen. 

"Nein, i-ich glaube du verstehst das nicht, Chris. Ich denke..." er schluckte. "Das war's." 

Chris sah ihn verständnislos an. "Was?"

"Ich kann das nicht mehr. Die shows... ich... wir haben schon zu viel verloren." 

Chris' Augen weiteten sich als ihm langsam bewusst wurde, worauf Andreas hinaus wollte. "Du kannst doch nicht einfach--"

"Nein, vergiss es. Ich kann das nicht mehr."

Chris schnaubte ungläubig. "Also das war's? Aus und vorbei oder was?! Einfach so? Warum? Weil vielleicht irgendwie, irgendwo, irgendwann wieder was passieren könnte?" Chris' Stimme bebte als sie durch die Werkstatt hallte. "Alles wofür wir die ganzen letzten Jahre gearbeitete haben? Und was Papa uns mit auf den Weg gegeben hat? Was er alles für uns getan hat, damit wir da sind wo wir heute sind? Das willst du alles einfach so aufgeben?"

Andreas sah Chris einfach nur völlig erschöpft und resigniert an. Seine Schulter sanken als er langsam ausatmete und versuchte sich nicht von Emotionen umleiten zu lassen. 

"Papa ist tot, Chris", sagte er schwach, völlig verausgabt von dem Streit. "Er ist schon weg. Aber du und ich, wir sind hier. Und ich will dich nicht nochmal verlieren."

Chris war sprachlos. 

Total geflasht. 

Er hatte sich ja bereits damit abfinden müssen, dass er vielleicht seine berufliche Karriere wegen seiner Gesundheit an den Nagel hängen müsste. Aber das er nun wieder fit war, nur um von seinem Bruder eine Abfuhr zu erhalten, traf ihn sichtlich schlimmer, als jeder rechte Haken, den Andreas ihm versetzen hätte können. "Du willst also aufhören? Für immer?" 

Andreas nickte bestimmt und presste die Lippen zusammen. 

'Wenn das heißt, dass ich meinen Bruder nicht verliere, dann ja,' dachte er beklommen.

Irgendwo in Chris' Ausdruck, brach etwas auseinander. 

Seine Augen füllten sich und blitzten mit tausenden Emotionen. Doch ehe auch nur eine einzige Träne fallen konnte, hatte er sich umgedreht und war aus der Halle gestürmt. 



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