„Bei uns wird es ‚Das Fest des Wiedergeborenen Lichtes' genannt", erklärte Eliza gedämpft, während sie an dem Verband auf ihrem Handrücken nestelte. Einzelne Fasern hatten sich gelöst, standen hervor und verhakten sich an ihrer Schürze, wenn sie versehentlich über den rauen Stoff strich. „In diesen Tagen trägt ein jeder sein eigenes, warmes Licht bei sich, sodass der Raum heller wird, je mehr Menschen beieinander sind. Auch bleibt stets ein Platz am Tisch frei, falls ein Mensch auf Reisen oder in Nöten eine Unterkunft, eine warme Mahlzeit oder einzig die Nähe zu einer vertrauten Seele benötigt."
„Das klingt familienfreundlicher als das, was hier vom Julfest übrig geblieben ist." Ihr Gegenüber ließ ein knappes Lächeln über sein Gesicht gleiten, eh er die Augen verdrehte. „Bis auf das Beieinander und die Trinkgelage, denen ich noch nie etwas abgewinnen konnte, scheint es oft nur darum zu gehen, wer seinen Verwandten die größte und teuerste Aufmerksamkeit aus dem Kreuz leiern kann." Er lehnte sich nach vorn, wobei seine Brille verrutschte. Mit dem Zeigefinger schob er sie zurück. „Stell dir vor, jedes Jahr erhalte ich Anfragen, ob sich private Geschenke von der Steuer absetzen ließen, bestenfalls zu hundert Prozent. Das ist mehr als unverschämt, zur Weihnachtszeit erst recht. Das ist doch nicht der Sinn dieser Farce."
„Ich magt Winnachten", behauptete ein dürres Mädchen entgegen der Tirade ihres Papas, kletterte zwischen ihnen die Sitzbank hinauf und schlang ihre Arme um ihn. Blonde Löckchen kringelten sich um ihr Gesicht, obwohl sie von einer riesigen, knallpinken und glitzernden Haarspange zusammengehalten werden sollten, die nur noch lose an einigen Strähnen baumelte.
„Das wird schon dein zweites Weihnachten, Maja. Und Mama guckt uns zu." Er umfasste seine Tochter sacht an der Taille und setzte sie auf seinen Schoß. „Von den Sternen aus sieht sie uns, stimmt's?"
Ernst nickte die Kleine. „Ja! Von den Sternen. Und, und, darum, müsst wir gucken, dass wir Sterne seht. Musst ganz gut gucken, Papa", schlussfolgerte sie bestimmt. „Ja, Papa?"
Langsam neigte Eliza sich zu ihr und ging leicht in die Knie, um auf Augenhöhe mit dem Mädchen zu sein. Kinder in Majas Alter sollten nicht erwachsen aussehen, wenn sie über die Sterne sprachen. Der Ausdruck versetzte ihr jedes Mal einen Stich im Herzen. Doch sie wusste, aus welchen Umständen Maja kam und hatte schon öfter die Folgen ihrer ersten Lebensjahre herausbrechen sehen. Sie hatte erlebt, wie Maja unter Tränen verkrampfte, weil ein heruntergefallener Teller sie erschreckte oder sie nach einem mutigen Ausflug ans Kuchenbuffet ihren Papa nicht sofort unter anderen Cafébesuchern entdeckte und die Panik innerhalb eines Wimpernschlages durchschlug. Sie für einen Augenblick lähmte, eh es angstgeladen durchbrach und ihr Verhalten steuerte.
Am liebsten hörte Eliza die Kleine kichern und lachen. Ebenso gern beobachtete sie zu jeder Gelegenheit, wie sie zögernd und doch neugierig die Welt entdeckte, wenn auch immer unter dem schützenden Blick ihres Papas. Manchmal, an guten Tagen, durfte sie Maja beim Klettern auf einen Hocker am Tresen unterstützen und ihr zeigen, wie man Sahne auf Kuchenstückchen klekste und mit Kakaopulver und einem Löffel ein Herz oder sogar eine Sonne in die Tortencreme zeichnete.
Eliza legte eine Hand an ihr Ohr, um ihre Idee zu symbolisieren und um Majas Anspannung zu zerstreuen. „Mir wurde gesagt, Maja, dass man die Sterne flüstern hört, wenn man ganz leise und aufmerksam ist und ihnen lauscht. Lauschen," wiederholte sie bedächtig, „lauschen und zuhören sind besonders wichtig."
„Wirklich?" Maja bekam große Augen.
„Wirklich", versprach Eliza und lächelte verschwörerisch. Manchmal lauschte auch sie nach den Sternen, wenn die Nacht ausnahmsweise dunkel und klar blieb. In einer Stadt wie Kopenhagen war es selten genug der Fall, dass sie mehr als ein paar der funkelnden Himmelsgestalten erkannte. Noch dazu bot sich ihr ein anderer Nachthimmel als der, unter dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. In diesem Himmel würde sie weder ihren Mann noch ihre Kinder finden, obwohl ihre Seelen bereits mit den Sternen zwinkerten. Nicht hier, nicht in dieser Stadt. Nicht auf diesem Kontinent.
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Sternenflut
Short StoryEine Kellnerin, die ihre Vergangenheit meidet. Ein Vater, der sein Leben auf seinen kleinen Sonnenschein ausrichtet. Ein Weihnachten, das nie stattgefunden hat. {Nur das erste Kapitel, der Rest bleibt auf Belle.}