Hanna wachte mit dem Gedanken: „Verdammt, schon wieder wach“, auf. Im Dunkeln tastete sie nach ihrem Wecker. Noch nicht mal halb drei. Sie hatte noch mindestens vier Stunden tot zu schlagen, bis sie aufstehen durfte. Und obwohl sie versuchte, nicht zu denken, konnte sie doch nicht verhindern, dass die Gedanken wiederkamen.
Was ist wohl die beste Art zu sterben? Das war die erste Frage, die all die anderen langsam aber sicher nach sich zog. Gibt es überhaupt eine „angenehme“ Variante? Hanna erschrak wieder über ihre eigenen Gedanken. Seit wann dachte sie über den Tod nach? Sie, die lebenslustige, immer gut gelaunte Hanna?
Mit einem tiefen Seufzer quälte sie sich von ihrem Bett hoch und schlurfte zu ihrem Schreibtisch, an dem ihre Schultasche lehnte. Hanna wusste, dass sie eh nicht mehr einschlafen konnte und obwohl sie überhaupt keine Lust hatte, mitten in der Nacht Hausaufgaben zu machen, hatte sie das Gefühl, dringend auf andere Gedanken kommen zu müssen. Und wie konnte man das besser, als bei einem Haufen komplizierter Matheaufgaben?
Als sie ihr Heft aufschlug, segelte ihr ein kleiner zerknüllter Zettel entgegen. Irritiert faltete Hanna ihn auseinander – und erstarrte. Auf dem Zettelchen stand nur ein einziges Wort: „Vaterkind“. Doch für Hanna war es wie ein Tritt in den Magen. Ihr Vater war vor zwei Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen! Sein Tod hatte sie und ihre Mutter vollkommen auseinandergerissen. Während Hanna versuchte, ihr Leben wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen, ließ sich ihre Mutter komplett von ihrer Trauer auffressen. Hanna hatte ihren Vater über alles geliebt, doch die Angst, so eine leblose Hülle zu werden, wie ihre Mutter eine geworden war, hatte ihre Trauer irgendwann überschattet.
Der Zettel weckte dieses dumpfe leere Gefühl in ihr allerdings wieder. Zwei Dinge machten Hanna Angst: Was so ein kleines Wort mit ihr machen konnte und, dass es jemanden gab, der gemein genug war, es auf einen Zettel zu schreiben und in ihre Tasche zu schmuggeln. Halb traurig, halb wütend zerriss Hanna das Papier. Wer es geschrieben hatte, wollte sie eigentlich gar nicht wissen. Es war sowieso egal. Jeder hasste Hanna, seitdem sie neulich mit dem beliebtesten Mädchen der Klasse ziemlich aneinander geraten war. Unmittelbar danach hatten diese Mobbereien angefangen, erst nur vereinzelt, doch mit der Zeit immer heftiger. Den größten Schrecken hatte es Hanna eingejagt, als sie von einem Mitschüler beinahe die Treppe heruntergeschubst worden war. Jeder, der diese Szene mitbekommen hatte, hätte behauptet, dass das ein Versehen gewesen war und Hanna hätte das zu gerne auch selbst geglaubt. Doch sie wusste, dass sie mit voller Absicht geschubst worden war, denn der Junge hatte ihr in dem Moment noch „Schlampe!“ ins Ohr gezischt. Wenn Hanna daran dachte, wurde ihr immer noch ganz schlecht.
Waren ihr wegen dieser Sache die Gedanken an den Tod gekommen? Oder waren sie eigentlich schon seit Beginn der Beschimpfungen und Beleidigungen da gewesen und hatten sich nur brav im Hintergrund gehalten?
Gedankenverloren fuhr Hanna ihren Computer hoch und loggte sich ein. „Fünf neue Nachrichten“ meldete die Anzeige. Fünf? Hanna beschlich plötzlich ein ungutes Gefühl. Mit zittrigen Händen klickte sie die erste Nachricht an: „Keiner will dich!“ Hanna sog scharf Luft ein und löschte die anderen, ohne sie zu lesen.
Dieser Tag war wahrscheinlich der schlimmste in Hannas Leben. Die hasserfüllten Blicke der anderen nahm sie kaum noch wahr. Sie hatte es irgendwie geschafft, sich dagegen eine unsichtbare Schutzmauer aufzubauen.
Aber wie konnten 25 mehr oder weniger eigenständige Menschen nur so blind auf die Meinung eines einzelnen hören? Wie hatte Miriam es geschafft, ihren Hass so auf die anderen zu übertragen, dass niemand sich ihr widersetzte oder gar Mitleid mit Hanna hatte? Hanna wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte und sie bereute ihn, doch für Entschuldigungen war es jetzt anscheinend zu spät.