Prolog

29 3 2
                                    

Das Licht ging aus.

Die dunkle Retterin stand im Türrahmen, völlig in Schwarz gekleidet wie immer. Die Schatten umgaben sie wie eine zweite Haut und verdeckten ihre wahre Identität. Ihre linke Hand lag an ihrer Hüfte, jederzeit bereit, ihr Wurfmesser zu ziehen und zu zielen. Seit dem Moment, in dem sie den Lichtschalter betätigt hatte, war sie die einzige Person, die noch etwas sehen konnte. Die Dunkelheit senkte sich in den Raum und saugte jedes Licht auf, wie eine schwarze Hülle bedeckte es alles, bis die Welt farblos wurde, ergraute.

Im Gegensatz zu dem lüsternen Mann und dem verängstigten Mädchen vor ihr sah das Mädchen in Schwarz die Regale und Gänge des alten Einkaufsladens genau und sie konnte jede Schattierung ausmachen. Mit leisen Schritten folgte sie dem Mann. Sie passte sich an seinen schweren Gang an und Wut kochte in ihr hoch, als sie sah, wie er das Mädchen behandelte. Er hatte sie am T-Shirt gepackt und schleifte sie grob neben sich her. Der einzige Grund, warum die Kleine nicht schrie wie am Spieß, war der Knebel in ihrem Mund, der ihr jeglichen Laut verbot.

Als der Mann merkte, dass es dunkel wurde, sah er auf, aber außer mit einem missmutigen Gebrummel reagierte er nicht darauf. Er hatte andere, dreckigere Ziele. Da störte es ihn kaum, ob er viel sah. Dennoch musste er sich nun vorsichtiger bewegen und würde einem Angriff schlechter ausweichen können.

Die dunkle Retterin folgte dem Mann zwischen den Regalen hindurch. Obwohl es für ihn dunkel war, unterschätzte sie seine Intuition nicht. Auch er würde hören, wenn sie dicht an ihm wäre. Sie hatte einen Vorteil, indem er sie nicht sah, aber er hatte immer noch ein Gespür für Gefahr, das vom Alkohol noch nicht vollständig beeinträchtigt zu sein schien. Deshalb bewegte sie sich ein oder zwei Regale weiter rechts, weiter hinten oder mehr links von ihm. Ihr Blick lag sowohl auf dem Mann als auch auf ihrer Umgebung und sie vergewisserte sich, dass sonst niemand im Raum war. Das Mädchen in Schwarz hatte ihre Strategie im Laufe der Jahre perfektioniert und ging auch heute so vor, wie sie es immer tat. Sie griff nicht wahllos Männer an, sondern ging zielsicher auf die Sorte los, die gerade ein Mädchen – oder, seltener: ein Junge – vergewaltigen oder missbrauchen wollten. Sei es, weil das Mädchen zur falschen Zeit am falschen Ort war oder in eine Falle getappt war. Und auch da bevorzugte sie es, dem Mann erst zu folgen und erst später anzugreifen. Sie griff aus dem Hinterhalt an. Sie war ein Schatten, der sich versteckte und sich im richtigen Moment auf den Mann warf. Sie blieb versteckt, anonym. Deshalb hatte sie das Licht ausgeschalten. Ebenso gut hätte sie mit Hilfe ihrer Schattenkraft den Raum abdunkeln können, aber einen Lichtschalter zu betätigen war ebenso effektiv.

Also sammelte die dunkle Retterin die Schatten um sich herum und ließ sie mit ihren Kleidern spielen. Die Schatten schlängelten sich an ihr hoch wie Feuer an einem Vorhang und bald war sie vollständig bedeckt. Nun waren der Mann und das Mädchen am Ende des Einkaufsladens angekommen. Wahrscheinlich war das sein Lieblingsort für die Befriedigung mit kleinen Mädchen, denn sie erinnerte sich daran, schon einmal einen Mann in diesem Einkaufsladen zusammengeschlagen zu haben.

Ein Ruck ging durch den Arm des Mannes und er warf das kleine Mädchen gegen die Wand.

Im selben Moment sprang die dunkle Retterin aus den Schatten und warf sich auf den Pädophilen, riss ihn mit auf den Boden und versetzte ihm dort einen Faustschlag, ehe er einen Mucks von sich geben konnte. Gleichzeitig hatte sie mit der anderen Hand einen Dolch gezogen, den sie nun tief in sein Bein steckte, nur um ihn dann wieder kräftig herauszuziehen. Der Mann schrie auf, als Blut zu fließen begann.

Er wand sich unter ihrem Griff und fluchte, aber das Mädchen in Schwarz war stärker als er. Langsam wurde es wirklich einfach, diese Übeltäter zu stellen, fand sie. Aber es war dennoch etwas, mit dem sie nicht aufhören wollte. Es ging nicht um Spaß, sondern um Vergeltung und Rettung. Hilfe. Solange es solche Fälle gab – und die gab es zur Genüge – würde sie unterwegs sein. Das Mädchen hinter der dunklen Retterin gab einen Laut von sich und versuchte offenbar, den Knebel loszuwerden. Für einen kurzen Moment lockerte die dunkle Retterin ihren Griff um den Mann und dieser nutzte seine Chance und schlug zu. Sie sah den Schlag kommen, wich im letzten Moment aus und versetzte ihm stattdessen mit der anderen Faust einen seitlichen Kinnhaken.

„Du verdammtes Miststück!", schimpfte der Mann und spuckte Blut. Er lag nun machtlos unter ihr und konnte wahrscheinlich gerade Sterne zählen.

„Das sagt gerade der Richtige", erwiderte das Mädchen in Schwarz gelassen und packte vorsichtshalber seine Hände. Sie war sich Beleidigungen gewöhnt und diese hier war eine der harmloseren Sorte. Ruckartig zog die dunkle Retterin das Knie hoch und riss gleichzeitig den Kopf des Mannes nach oben. Ihr Knie traf seinen Kopf und abrupt ließ sie ihn wieder fallen. Sein Schädel schlug auf dem Boden auf und im nächsten Moment kippten seine Augen nach hinten. Er war ohnmächtig. Das Mädchen der Schatten erhob sich in einer fließenden Bewegung und stand dann vor dem kleinen Mädchen, das an der Wand gekauert saß und sie aus großen Augen ansah. Sie hatte den Knebel mittlerweile ausgespuckt, aber ihre Hände waren immer noch gefesselt. Sie weinte nicht, aber sie wirkte wie in einer Schockstarre und ihr Blick war ausdruckslos auf ihre Retterin gerichtet. Sie konnte nicht beurteilen, ob sie Angst vor ihr hatte oder einfach von der ganzen Situation verängstigt war, aber die Kleine war eindeutig am Rand der Panik.

Mitleid mischte sich in die dunklen Augen des Mädchens der Schatten und sie machte sich eilig daran, mit dem Dolch die Fesseln zu durchschneiden. Dabei wurde die Schnur rot vom Blut des Täters, aber das war ihr egal.

Sobald die Hände des Mädchens frei waren, rieb diese sich zitternd die Handgelenke und atmete erleichtert aus. Die Geste war dem Mädchen aus dem Nichts schmerzlich vertraut.

„Danke... du hast mich gerettet", sagte das Mädchen dann mit erstaunlich fester Stimme. Sie gab sich Mühe, nicht zu ihrem Angreifer zu schauen, der neben ihnen auf dem Boden lag. Ihre Augen flatterten leicht, aber sie vergoss immer noch keine einzige Träne.

Das kommt bestimmt noch. Wenn nicht heute, dann in ein paar Wochen, wenn der Schock nachlässt.

Die dunkle Retterin nickte nur, verdichtete die Schatten um sich herum und legte dem Mädchen eine Hand auf den Rücken. „Komm, lass uns gehen."

Tigermädchen - Die Schatten sind ihr Versteck (Band 2) LESEPROBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt