Kapitel 5.1 - Guten Morgen liebe Sorgen

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21. Jir'Lore, 2145 n.n.O.

"Was glaubst du eigentlich, was ich bin?"

Seine Stimme war überall. Ebenso seine Wut.

Kein Ort, zu dem ich rennen konnte. Kein Ort, an dem ich mich verstecken konnte. Nur Wasser. Überall. Es zerrte an meinem Körper... Jeder Schritt war reine Qual...

Nein... keine Schritte...

Mein Blick fiel auf meine Füße, doch da war nichts. Nur blanke Stümpfe.

Ich hatte keine Füße mehr. Mit dieser Erkenntnis fiel ich wehrlos zu Boden.

Über mir leuchtete ein Gesicht in der Dunkelheit, wutverzerrt und mit glühenden Augen.

Mit einem Schrei auf den Lippen zuckte ich zusammen. Ein paar Luftblasen strichen über meine Wangen und trugen meinen Schrecken ungehört davon. Zitternd rollte ich mich wieder in meiner Schlafkuhle ein und verfluchte meine eigenen Träume.

Seit ich mich nur Minuten nach meiner Schwarmeinführung mit Zac gestritten hatte, konnte ich mich nicht mehr auf sie verlassen. Das war vor knapp einem Zyklus gewesen. Seitdem schleuderten meine Träume mir ständig Fetzten unseres Geschreis entgegen oder schoben mir die Erinnerungen an die Flussfrau unter, die mich geschlagen hatte. Ich konnte es nicht vergessen. Nichts davon.

"Was glaubst du eigentlich, was ich bin?"

Wieder hörte ich das Echo von Zacs Stimme. Wieder spürte ich seine Wut kalt und schneidend in meinem Kopf. Mehr denn je wünschte ich mir Licht. Doch nachts war der See so dunkel, dass ich kaum die Hand vor Augen sah. Instinktiv tastete ich nach etwas Halt und fand ihn in dem Seegras, das wie ein Vorhang um meine Schlafsenke herum wuchs. Flussmenschen ließen diese Pflanzen überall um ihre kleinen „Privaträume" herum wachsen, sodass eine Art lebende, grüne Wand um ihre persönlichen Bereiche herum entstand, die vielleicht drei Finger breit war.

Mit einem absurden Gefühl der Erleichterung krallten sich meine Hände um die Pflanze und ich spürte ein beruhigendes Kribbeln auf meiner Haut, als ihre dünnen Blätter sanft über meinen Handrücken glitten. Die Wirklichkeit dieses Gefühls gab mir immerhin etwas Sicherheit. Vielleicht auch nur deshalb, weil diese Wände von allen respektiert wurden. Niemand käme auf die Idee, sie ohne Einladung zu durchbrechen, um so in die Privatsphäre eines anderen einzudringen. Und tatsächlich fühlte ich mich nirgendwo sonst im See so sicher, wie hier hinter meinem lebenden Seegrasvorhang.

Doch vor meinen Erinnerungen konnte diese Wand mich nicht schützen.


Wie betäubt hockte ich am Grund des Sees und versuchte, meine Situation zu erfassen. Seit ich aus meinem Zwangsschlaf erwacht war, war ich ein Mitglied vom Schwarm der Krallen-Mündung. Meine Beine sahen aus wie Froschschenkel und meine Hände hatten Schwimmhäute zwischen den Fingern. Widerlich. Bestimmt konnte ich nun auch mit anderen Flussmenschen eine Gedankenverbindung eingehen, wie Zac es prophezeit hatte. Nicht, dass ich im Moment große Lust dazu hatte, denn wahrscheinlich konnte jeder von ihnen meine Gedanken nun genauso offen lesen, wie Zac es jetzt schon tat. Immerhin war meine Sicht besser geworden. Zumindest schienen die Farben nicht mehr so trübe, obwohl der grün-blaue Glanz des Wassers auch jetzt nicht verschwand und in meinen Haaren noch immer keine Spur von ihrem eigentlichen rot zu sehen war.

Das alles sagte mir der kleine, rationale Teil meines Gehirns, der versuchte, die Situation für mich zu analysieren und irgendeine Art von Handlungsvorschlag zu machen.

Des Wassermanns Weib II - berührtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt