Kapitel 30

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Tränen steigen erneut in meine Augen, aber diesmal kann ich sie zum Glück noch wegblinzeln, bevor mich noch hemmungsloses Schluchzen überkommt. Schwach krieche ich zurück zum Tisch, um mir die nächsten zwei Photos anzuschauen. Mit zittrigen Fingern greife ich nach dem Stapel und lege das vorherige Bild nach hinten, damit ich mich nicht noch einmal übergebe. Das nächste Bild war vielleicht schlimmer, aber meine Sicht verschwimmt, nach dem ich den in mehrere Teile zerstückelten Körper des Jungen sehe.

Das gleiche Bild wie vorher, mit der Änderung, dass seine Gliedmaßen teils vom Rumpf getrennt sind oder nur noch an einem Fetzen Haut hängen. Die salzigen und warmen Tränen hinterlassen eine feuchte Spur über meiner trockenen Haut meiner Wange. Verzweifelt versuche ich die Tränen mit meiner freien Hand aufzufangen, damit ich eine Chance habe, mir das langsam trocknende Erbrochene von den Händen zu waschen. So lege ich die Photos auf den Tisch und fange meine mittlerweile tausenden Tränen auf.

Nach wenigen Sekunden ist die mit meinen Händen geformte Schale vollgefüllt mit Wasser, weshalb ich meine Hände aneinander reibe. Währenddessen versuche ich mein Schluchzen verschwinden zu lassen, allerdings ist die Angst, was auf mich zukommt, größer als alles andere. Mein Körper zittert und zaghaft schüttele ich mich, um meine ausgeprägt vorhandene Trauer zu überwältigen, damit ich das nächste Bild betrachten kann.

Zuckend greifen meine Hände nach dem letzten Photo und zögerlich werfe ich einen Blick darauf. Schwer schluckend schließe ich meine Augen und verdränge die aufkommende Übelkeit, aber nichts kann das Gesehene ungesehen machen. Langsam baut sich das Bild vor meinem inneren Auge auf und zwingt mich somit, es zu begutachten. Ein Pfeil befestigt den vom Rumpf getrennten Kopf an eine blutverschmierte Wand und das rechte Auge des Jungen befindet sich an einer roten Ader, welche aus der Augenhöhle hängt und scheinbar in diesem Moment noch hin- und herschwingt.

Seine beiden Arme sind ebenfalls mit Nägeln durch die Handfläche an der Wand aufgehängt, die Muskeln und die zerfetzte Haut hängen an dünnen Adern an den Armen und sein Blick zeigt vollkommene Leere. Der Rumpf jedoch ist mit einem holzigen Ast unter dem Kopf in der Wand eingeschlagen und in ihm stechen die hellen Rippen heraus, wodurch das an einer Rippe aufgespießte Herz zum Vorschein kommt. Da die Hände über dem Kopf befestigt worden sind, hängen die Oberarme neben des Jungens Brust.

Seine Haut ist teils zerissen, aufgeschlitzt oder voller bunter Blutergüsse. Die Finger seiner Hand hängen schlaff herunter und erwecken den Anschein, als hätten sie sich zum Zeitpunkt seines Todes krampfhaft zu einer Faust bilden wollen. Auch seine Beine sind vom Rumpf getrennt an der Wand mit zwei Nägeln befestigt und die stumpfen Enden seiner Oberschenkel weisen eine rot-bläuliche Farbe auf. Auch seine Unterschenkel sind mit Nägeln an die Wand genagelt, allerdings erzeugen seine Füße den nächsten Würgereiz in mir. Die Augen geschlossen, schlage ich meine Hände vor meinen Mund, allerdings hilft meine Reaktion nicht gegen das Bild in meinem Kopf, weshalb ich es mir wieder vorstelle.

Seine Füße bestehen nur noch aus von Messern aufgeschabten Knochen, auf denen sich rosa Fleischfetzen, dunkelrotes Blut und mehrere Sägespäne befinden. Die Muskeln und Knochen stechen aus dem ganzen Photo heraus, aber nichts kann dieses schreckliche Abbild noch positiv verschönern. Egal, wieviele Blumen und Herzen dazu gibt, dieses Szenario bleibt für immer in meinem Kopf. Nun bin ich am Pumkt angelangt, an dem ich nur mehr Angst und Verzweiflung spüre. Angst vor den anderen Akten, die ich mir eigentlich als Vorbereitung auf die kommenden Räume durchlesen wollte. Und Verzweiflung, weil ich nicht so enden will. Nicht ich, bitte.

Ich, die AuserwählteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt