Einige Tage später blieb Brennnessel stehen. Rosmarin keuchte erleichtert auf, denn ihnen allen taten die Pfoten weh und sie hatten tagelang nichts Ordentliches gefressen, da sie an das Jagen im Wald nicht gewöhnt gewesen waren. Die Beute, die sie erlegt hatten, war alt und schmeckte zäh, war aber immerhin besser als nichts.
Doch jetzt war Salbei erleichtert, dass sie endlich am Ziel ihrer Reise angekommen zu sein schienen. Brennnessel knurrte erfreut und schlich dann aus dem schützenden Dickicht der letzten Bäume auf eine freie Fläche. Hohes Gras wuchs dort, das im leichten Wind schaukelte und das durch die Hitze der Blattgrüne leicht verdorrt geworden war. Doch direkt vor ihnen glitzerte ein dunkelblauer See in der Sonne. Salbei folgte ihrem Vater und trat zum Ufer des Sees, wo sie ihre schmerzenden, wunden Ballen ins kühle Nass streckte. Sie war es nicht gewohnt, so weite Strecken in den Wäldern zu laufen, viel lieber mochte sie offenes Gelände mit wenigen Bäumen.
Doch Brennnessel ließ ihnen nicht viel Zeit zum Ausruhen. Er scheuchte seine Töchter weiter, um das Gebiet auszukundschaften und wirkte sehr zufrieden dabei. Dieses Grasland ähnelte ihrer Heimat viel mehr als die dicht stehenden Wälder.
„Und Beute gibt es auch genug“, dachte Salbei, als sie zwei Kaninchen durch das Gras hoppeln sah. Sie streckte sich und trottete Rosmarin langsam hinterher, die ganz begierig darauf schien, das Gelände zu erkunden.
Es war Brennnessel, der schließlich die geeignete Höhle für die vier Katzen fand. An der einen Seite des Sees lag ein breites Felsplateau, das in den See hineinreichte und darauf befand sich ein großer Felsen, der unzählige Kratzspuren aufwies. Salbei dachte, dass hier wohl die wilden Katzenclans oft herkamen, und auch der Geruch verriet ihr dies. Ihre Nase war von den vielen unterschiedlichen Gerüchen schier überwältigt, und sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich hier die Katzen trafen oder kämpften. Das Felsplateau wies ebenso wie der große Fels viele Spuren von Krallen auf, und Salbei konnte sich kaum von dem Anblick losreißen, um Brennnessel zu folgen.
„Ich will diesen wilden Katzen nicht begegnen!“, Lavendel drückte sich ängstlich an ihre Schwester, sie zitterte beinahe und schien ehrliche Angst zu haben.
„Wir beschützen dich schon“, Salbei knuffte Lavendel liebevoll und sie trotteten Brennnessel hinterher, der den Felsen hinabkletterte und an das Ufer des Sees trat. Dann verschwand er plötzlich, und erst beim Näherkommen sahen Salbei und Lavendel, dass er in den schmalen Eingang einer Höhle geklettert war, die sich etwa einen Meter über dem Ufer befand. Rosmarin, die hinter Salbei und Lavendel hinuntergeklettert war, drängelte sich an ihnen vorbei und folgte ihrem Vater, dann machten sich auch die beiden übrigen daran, in die Höhle zu klettern.
Es war nicht besonders viel Platz darin, aber dafür sehr warm und Salbei stellte sich schon vor, dass man nur Moos hineinschaffen musste, dann könnte es der ideale Schlafplatz sein.
Ihre gesamte Müdigkeit war verschwunden und plötzlich hatte die graue Kätzin genug Energie, um mit einem Dachs zu kämpfen.
„Wir sollten jagen“, schlug sie also vor, wobei es ihr egal war, ob die anderen ihren Vorschlag guthießen oder nicht.
„Zuerst müssen wir das Gelände auskundschaften“, Brennnessel setzte sich aufrecht hin und fixierte Salbei mit starrem Blick.
„Ich habe Hunger“, knurrte diese zurück. Was fiel Brennnessel ein, dass er so mit ihr reden konnte?
„Wir kundschaften zuerst das Gebiet um den See aus! Du weißt ja jetzt noch nicht einmal, wo du jagen kannst!“, Brennnessel stand jetzt auf und ragte drohend und als dunkler Schatten vor Salbei auf.
In ihrem Pelz kroch Wut hoch, doch sie verkniff sich eine Antwort und drängelte sich an ihrem Vater vorbei. Er würde ihr nicht noch einmal ihren freien Willen nehmen!
Gespannt wartete sie, ob ihr einer der anderen nachkam, aber alles blieb ruhig. Offenbar wollte Brennnessel seine Energie nicht damit verschwenden, seiner widerspenstigen Tochter hinterherzulaufen.
Als der Mond schon hoch am Himmel stand, gab Salbei auf. Sie gab zwar nicht zu, dass ihr Vater Recht gehabt hatte, aber gefangen hatte sie trotzdem noch nichts. Ihr Magen knurrte und sie fühlte sich elend, aber das wollte sie Brennnessel nicht unter die Schnauze halten. Ihr Stolz hinderte sie daran, einfach zu ihm zu gehen und so wälzte sie sich einmal in einer Grube, die verdächtig nach Fuchs stank, und kehrte dann zurück zur Höhle. Die graue Kätzin versuchte, das unablässige Magenknurren zu ignorieren, und reckte den Kopf in die Höhe, als sie den Felsen hinabkletterte und ihre Familie vor der Höhle hocken sah. Brennnessel hatte einen riesigen Hasen vor sich und verzehrte gerade genüsslich die letzten Bissen, Lavendel und Rosmarin waren offenbar schon fertig, denn sie lagen lang ausgestreckt neben ihm, dösten bei halb geschlossenen Lidern und verdauten anscheinend eine ausgiebige Mahlzeit.
„Erfolgreich gejagt?“, knurrte Brennnessel und begutachtete Salbei.
„Ja“, gab sie zurück und leckte sich mit der Zunge über die Schnauze, als dächte sie an ein saftiges Fressen. Nun, daran dachte sie auch. Aber dabei knurrte ihr Magen unablässig verdächtig laut und Salbei konnte nur extra laut zu ihnen hin trampeln, um die Geräusche zu übertönen. Sie war sich sicher, dass Brennnessel merken würde, dass sie nichts gefressen hatte.
„Nun, wir auch“, Lavendel öffnete ein Auge und blinzelte Salbei an. Salbei unterdrückte ein besonders lautes Magenknurren und nickte, als wäre sie ganz zufrieden.
„Willst du noch was? Ich kann nicht mehr“, Brennnessel schob ihr die Reste des Hasen zu und funkelte sie aus orangen Augen an.
„Nein danke, ich bin satt!“, zwang sich die graue Katze zu antworten und kletterte ohne ein weiteres Wort hinauf in die Höhle. Sie versuchte die Ohren vor den Geräuschen zu verschließen, die erklangen, als Brennnessel amüsiert knurrte und dann genüsslich die letzten Bissen verschlang.
Salbei bettete ihren Kopf auf die Pfoten und versuchte, zu schlafen, aber ihr knurrender Magen und das neue Heim machten es ihr schwer. Sie dachte an ihr altes Zuhause, an ihre Hausleute und an die Schäferhündin Bea. Sie vermisste alles, sogar die stinkenden Schafe, die Bea jeden Tag hütete, und die sie mit Rosmarin und Lavendel immer gejagt hatte. Brennnessel hatte oft davon geredet, einmal eines dieser wolligen Dinger zu töten und zu fressen, es aber nie getan. Wahrscheinlich wäre er verjagt worden, wenn er es getan hätte. Hätten Salbei und ihre Schwester dann bleiben dürfen? Aber wären ihre Schwestern überhaupt geblieben, wenn Brennnessel verjagt worden wäre? Sie wäre auf jeden Fall geblieben, aber was ihre Schwestern dachten, wusste Salbei nicht.
Waren ihre Schwestern ihrem Vater überhaupt treu ergeben? Rosmarin würde Brennnessel bis in den Tod folgen, sie war vom selben Schneid wie er. Aber Lavendel? Lavendel war zu schüchtern, um ihm zu widersprechen, aber sie war ehrlich und sanft, und würde ganz sicher nicht für ihn sterben. Und sie selbst? Nun, ganz sicher würde sie Brennnessel verlassen, sobald sich eine Gelegenheit erbot, aber sie konnte ihre Schwestern doch nicht einfach zurücklassen, oder? Zweifel und Angst nagten an Salbei und verdrängten den Hunger ein wenig, sodass sie mit bohrenden Fragen im Kopf schließlich einschlief.