Quintessenz

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,,Miss White, sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie sich dieser Sache gewachsen fühlen? Ist Ihnen klar, worauf Sie sich einlassen.''

Die junge Frau, die dem Leiter der Anstalt gegenüber saß, seufzte hörbar auf.

Da ist es wieder, dachte sie, das Mitleid, das ''nicht zutrauen wollen'', die Überzeugung, dass sie scheitern werde.

,,Sir'', entgegnete sie so höflich, sie konnte, ,,ich habe mein Studium, als eine der Besten meines Jahrganges abgeschlossen. Sie als einer der Professoren müssten das sehr genau wissen. Ich habe in meiner, ich gebe zu, vielleicht etwas kurzen beruflichen Laufbahn schon zahlreiche Erfahrungen sammeln können. Ich bin gut in dem was ich tue, das wissen Sie, sonst hätten Sie mich wohl kaum eingestellt. Also, bitte ich Sie mir zu vertrauen, wie Sie es einst bei meinem Vater taten.''

Der ältere Mann kratze sich verlegen über seinen ergrauten Bart. Aber in ihre Augen blicken, dass konnte er trotzdem nicht. Stattdessen fixierte er einen Punkt neben ihr an der Wand.

,,Es tut mir Leid'', sagte er, ,,ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, aber Miss White das hier, diese Einrichtung ist etwas vollkommen anderes, als das was sie bis jetzt erlebt haben. Wenn ich Ihnen sage, dass hier die schlimmsten und grausamsten Verbrecher ganz Gothams sitzen, ist das wahrscheinlich noch untertrieben. Es ist sehr geschickt von Ihnen, ihren Vater zu erwähnen, da sie um die jahrelange Freundschaft die uns beide verband wissen. Aber ich hoffe dass Ihnen ebenso klar ist, dass Ihr Vater mich wahrscheinlich im nächsten See ertränkt hätte, wenn er erfahren hätte, dass ich Sie unnötigen Gefahren aussetze.''

Seine Worte brachten die junge Frau zum schmunzeln. Er hatte ihren Vater gut beschrieben. Sie konnte sich beinahe bildlich vorstellen, wie er ins Büro gestürmt kam, seinen alten Freund am Kragen packte und gnadenlos mit sich schleifte. Ihr Vater war die Güte in Person gewesen, aber wenn es um seine kleine Alice gegangen war, sagen wir es mal so, dann hätte man lieber das weite suchen sollen. Alice wusste, dass sie das gleiche Temperament wie er besaß und aus diesem Grund, gab sie nun kein Stück nach.

,,Ich kenne meine Grenzen, Sir'', entgegnete sie daher etwas schnippisch und wartete schweigend auf seine Reaktion. Dieses mal war er derjenige der tief seufzte, denn er wusste, dass er diese Diskussion haushoch verloren hatte. ,,Ich glaube und vertraue Ihnen, voll und ganz'', sprach er, aufrichtig, ,aber nicht meinen Patienten', dachte er, sagte stattdessen: ,,aber wenn sie sich überfordert fühlen, eine Pause benötigen oder mit einem der Patienten nicht zurecht kommen sollten, zögern sie nicht mich zu kontaktieren. Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn Ihnen etwas zustoßen sollte.'' Alice dankte im lächelnd. Sie war so erfreut und übermütig, dass sie beinahe über ihren Stuhl stolperte, als sie den Raum nach einer höflichen Verabschiedung verlassen wollte. ,,Alles in Ordnung'', beschwichtigte sie ihren neuen Arbeitgeber lachend und rieb sich ihre schmerzende Hüfte. Kopf schüttelnd, reichte er ihr ihren Blindenstock.

Und eh er sich versah, war die junge Frau auch schon durch die gläserne Doppeltür verschwunden. Ihr noch nur kurz nachblickend, ließ er sich erschöpft in seinen Sessel sinken. Obwohl er um Alices herausragende Leistungen wusste, wurde er das Gefühl nicht los, einen riesigen Fehler begangen zu haben. Alice White war auf ihre Art brillant. Mochten ihre Methoden auch ein wenig unorthodox und unkonventionell erscheinen, hatten sie doch, zum großen Missfallen all ihrer Kritiker, meistens zum Erfolg geführt. Sie hatte es immer geschafft eine gewisse, weiterhin professionelle, Bindung zu ihren Patienten aufzubauen. Sie hatten ihr vertraut. Selbst heute noch, bekam er Schriften von damaligen Patienten die sich nach dem Wohlergehen seiner ehemaligen Studentin erkundigten. Die ihr einehmendes Wesen und ihren herzlichen Umgang, den sie mit ihnen gepflegt hatte, schätzten und lobten. Was immer Alice auch tat, irgendetwas schien sie richtig zu machen.

Aber, so fragte er sich, war sie diesen Patienten, diesen Monstern, die in Arkham lebten wirklich gewachsen? War sie stark genug, um nicht unterzugehen?

Er war sich da, ehrlich gesagt, nicht so sicher. Er hatte viele Therapeuten kommen und gehen sehen. Einige von ihnen hatte er nie wieder zu Gesicht bekommen, manche waren selbst als Patienten zu ihm zurückgekehrt. Ein solches Schicksal wünschte er Alice nicht. Dafür war sie einfach zu gut, zu ehrlich und rein.

Weiterhin grübelnd schenkte er sich ein kleines Glas Brandy ein, nur um dieses in einem Zug zu leeren. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, wärmte seine Brust und verschaffte ihm ein wenig Klarheit. Er würde ihr eine Chance geben, wenn nicht ihr, dann war er es zumindest seinem alten Freund schuldig.

~~~*~~~

,Ja, habe ich, ja doch, sag mal, hörst du mir überhaupt richtig zu?'', lachte Alice in den Hörer hinein. ,,Ja, das fragst du mich jetzt das zweite Mal, aber du lässt mich doch gar nicht zu Wort kommen. Hmh, ja, Andrew kann jetzt mit dem Dreirad fahren, das hast du mir schon letztes Mal erzählt. Natürlich freue ich mich darüber, aber es reicht doch, wenn ich dir das einmal sage oder nicht? Ja, siehst du, manchmal habe ich auch Recht.

Hannah? Hannah? Weißt du was, ich glaube wir sprechen lieber morgen, ok? Hörst du, ich- '' Stille, ihre Freundin hatte bereits aufgelegt. Alice legte den Hörer seufzend, neben ihr auf das Sofa. Sie fuhr sich durch ihre dunklen Locken und ließ sich tiefer in das weiche Polster sinken. Ihren wärmenden duftenden Kakao in der Hand, schaltete sie den Fernseher ein und lauschte den heutigen Nachrichten. Wieder einmal waren sie von dem Mann erfüllt, der die Stadt seit Wochen in Atem hielt. ''Joker'', wurde er genannt, weil er sich, so wie Alice es dem Getuschel der Menschen auf den Straßen entnehmen konnte, das Gesicht bemalte wie ein Clown. Sein krimineller Werdegang war gepflastert mit Leichen, Blut und Chaos. Doch als Alice bereits die ersten Meldungen über seine Taten gehört hatte, war ihr sofort klar, dass dieser Mann kein Verrückter war. Zumindest nicht nach ihrem Empfinden. Da war noch sehr viel mehr, als der bloße Akt des Tötens. So wie er seine Taten zur Schau stellte, als wollte er, dass die ganze Welt Zeuge seiner Werke würde. Als wäre er der Künstler und Gotham seine Leinwand; der Virtuose seiner eigenen Symphonie.mIhr war vollkommen klar, dass man sie für einen solchen Gedanken, als ebenso verrückt erklären würde. Aber, was viele ihrer Kollegen immer wieder verkannten, war die Macht der Empathie. Nur wenn man versuchte sich in die Lage dieser Verbrecher zu versetzen, zu verstehen was sie sahen, nur dann konnte man eine Verbindung zu ihnen aufbauen und vielleicht eines Tages, mit ihnen gemeinsam, wenn sie es auch wollten, einen Ausweg finden. Andernfalls würde man immer nur ein Monster sehen. Nur einen Mörder, der es nicht einmal wert war, dass man ihn überhaupt ansah.

Und gerade eben diese Sicht war es, die Alice ihren Kollegen woraus hatte. Sie, die ihre Welt nicht anders wahrnehmen konnte, als durch Gefühl, Vertrauen, und ein wenig Glauben, war viel unempfänglicher für die Macht des äußeren Scheins. Sie konnte darüber hinaus sehen. Vorurteilsfrei, wertfrei erkannte sie den Kern der Dinge, die Quintessenz, die der Motor für ihr aller Handeln war.

Erschöpft reckte die junge Frau ihre müden Glieder und trank den letzten Schluck ihres warmen Getränkes, mit der Hoffnung endlich die Chance für einen Neuanfang vor sich zu sehen.

DämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt