Schachzug

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,,Hast du schon gehört, dass der Joker gefasst wurde? Er soll schon auf dem Weg in seine Zelle sein, und zwei Wärter getötet haben.''
,,Wirklich? Wie furchtbar. So ein Monster!''
,,Ich weiß! Ich gehe bestimmt nicht in seine Zelle, um sie zu reinigen, da muss mir der Laden eindeutig mehr zahlen!''
Alice nahm das Gerede der beiden Frauen des Reinigungspersonals kaum war, als sie an ihnen vorbei schritt. Ihr Ziel war auch heute das Büro ihres Vorgesetzten, doch dieses Mal diente der Zweck ihres Besuches der Abklärung einiger Formalitäten. Sie hatte bis jetzt weder genaue Anweisungen bekommen, noch Pläne für den Verlauf ihrer weiteren Arbeitstage.

In dem Gang seines Büros angekommen, bemerkte sie jedoch bereits wenige Schritte davon entfernt, dass darin eine hitzige Diskussion geführt wurde.
,,Bei allem nötigen Respekt Sir,'', erklang eindeutig Dr. Millers Stimme. ,,Sind Sie sich wirklich sicher, dass es eine gute Entscheidung ist Miss White gerade diesen Arbeitsbereich zuzuweisen? Ich meine Sie ist, nun ja...''
,,Dr. Miller'', wurde er vom älteren Doktor unterbrochen. ,,Sie haben mir den Vorfall bereits zwei Mal geschildert, was, in Gottes Namen, soll ich Ihrer Meinung nach tun? Miss White ist eine herausragende Psychologin, vielleicht sollten Sie Ihr und Ihren Methoden erst einmal eine Chance geben.''
,,Vielleicht'', warf Alice ein, die dem Gespräch nicht länger lauschen wollte und durch die Tür getreten war, ,,sollte, Dr. Miller, das persönliche Gespräch mit mir suchen und nicht hinter meinem Rücken zu Ihnen laufen.''
Sie hatte die Arme vor ihrer Brust verschränkt und wartete seelenruhig auf eine Erklärung. Die jedoch nicht kam. Also sprach sie weiter:
,,Keine schlagfertige Antwort parat, Dr. Miller? Gut, dann werde ich Ihnen eine geben: ich bin kein kleines Porzellanpüppchen, das zerbricht, sollte man es einmal zu fest anfassen. Nur weil ich blind bin'', bei diesem Wort zuckten die beiden Männer schuldig zusammen, ,,bedeutetet das noch lange nicht, dass ich komplett hilflos bin. Oder keine Gefühle habe! Und Sie, Dr Arkham, Sie sind nicht einen Deut besser! Denken Sie, ich spüre Ihre mitleidigen Blicke nicht? Denken Sie, ich weiß nicht was Sie denken? Was alle denken? Ich bin es so Leid...'', flüsterte sie ihre letzten Worte, so sanft, dass sie kaum zu verstehen waren.
,,Bitte, Alice, weinen sie nicht'', flehte Dr. Arkham hilflos.
,,Ich weine überhaupt nicht!'', rief sie erbost, während ihre Tränen gnadenlos über ihre erröteten Wangen flossen. ,,Ich, ich-''
Sie brach ab und stürmte kopflos davon, rannte so lange, bis sie das Gebäude verlassen hatte und schwere Regentropfen auf ihrer Haut spüren konnte.
Die Kühle, mit der sie sie sanft empfingen, beruhigte sie ein wenig.

Nun mischte sich zu ihrer Wut, Trauer und Scham. Wie hatte sie nur so töricht sein können zu glauben, dass dieses Mal etwas anders sein könnte. Wie hatte sie nur hoffen können, dass sie endlich einmal wirklich respektiert werden würde.
,,Miss White? Alice?'', drang Dr. Millers Stimme an ihr Ohr. Er klang vollkommen außer Atem, und kam ein paar Schritte von ihr entfernt zum stehen. Wusste jedoch noch nicht so recht, was er sagen sollte, geschweige denn, wie er überhaupt beginnen sollte. Eine unangenehme Stille begann sich zwischen ihnen auszubreiten.
,,Wer hätte gedacht, dass Sie mit den kurzen Beinen so schnell rennen können'', versuchte er die angespannte Stimmung, etwas aufzulockern.
,,Gehen Sie weg'', war alles, was Alice erwiderte.
Ihr Gegenüber seufzte schwer.
,,Das kann ich nicht.''
,,Und warum nicht? Sie konnten mich doch auch bei Dr. Arkham anschwärzen. Warum sollten Sie mich dann jetzt nicht allein lassen können?''
,,Weil ich mich dann nicht bei Ihnen entschuldigen könnte.''
Ah, da haben wir es, war Alices erster Gedanke, er will sein schlechtes Gewissen beruhigen.

,,Es tut mir Leid'', sagte er. ,,Alles. Alles, was ich zu Ihnen gesagt habe. Wie ich mich Ihnen gegenüber verhalten habe war falsch, aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es nicht aus Mitleid geschah.''
Er trat einen vorsichtigen Schritt näher.
Mittlerweile waren sie beide vollkommen durchnässt
,,Ich tat es, weil ich mich fürchtete. Für Sie. Sie wissen nicht wie diese Leute sind, Alice. Sie sind gefährlich, von Grund auf bösartig. Ich habe in all den Jahren genug gesehen, um zu wissen wozu sie fähig sind, wenn sie nur die Chance dazu bekommen. Ich fürchtete mich, weil ich sah, wie Dr. Crane Sie ansah. Deren Wut, deren Zorn auf sich zu ziehen, kommt einem Todesurteil gleich. Aber ihre Neugierde? Ihr Interesse? Ich möchte mir nicht einmal ausmalen, was in jenem Augenblick, in Cranes Kopf vor sich ging.''
Ein Schauer durchfuhr Alices Körper, ob aufgrund seiner Worte oder der beißenden Kälte, vermochte er nicht zu sagen.
,,Dennoch verspreche ich Ihnen, dass ich Ihre Ansichten, selbst wenn sie gegen die meinen sprechen sollten, in Zukunft respektieren werde.''

Alice musste gestehen, dass sie nicht damit gerechnet hatte, dass er so aufrichtig zu ihr sein würde. Ausflüchte, Floskeln, endlos lange Erklärungen, die doch zu nichts führten, damit wurde sie beinahe täglich konfrontiert. Daher war ihr seine schonungslose Ehrlichkeit tausendmal lieber, als jedes andere geheuchelte Wort.
Natürlich wusste sie um die Gefahren, natürlich wusste sie, was es bedeutete ihnen einen Teil ihrer selbst zu offenbaren. Sie machte sich angreifbar, verletzlich, im schlimmsten Fall, zum Ziel ihrer grausamen Spielchen.

Aber manchmal, manchmal, nicht immer, bekam man auch etwas zurück. Manchmal konnte man die Menschen berühren. Selbst wenn es nur einer unter tausend war, war das dennoch Grund genug für sie, nicht aufzugeben und weiterzukämpfen.

Trotz seiner aufrichtigen Worte, zeigte Alice ihm weiterhin die kalte Schulter, denn so einfach wollte sie es ihm nicht machen. Also änderte er seine Strategie.
,,Wie wäre es, wenn ich Sie auf eine Tasse heiße Schokolade und ein Stück Kuchen einladen würde? Könnten Sie mir dann vielleicht verzeihen?''
Alices Miene erhellte sich augenblicklich, doch kurz darauf zog sie eine Grimasse. ,,Lassen Sie mich raten, ich kann mir schon denken, wer Ihnen dazu geraten hat, mich auf diese Weise zu ködern.''
Der junge Doktor zog ertappt den Kopf ein.
Obwohl Alices sein Mienenspiel nicht sehen konnte, wusste sie auch so, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Wer sonst, außer Dr. Arkham, hätte ihm zu einem solchen Schachzug geraten.
,,Und was sagen Sie?''
Er hielt angespannt die Luft an.
,,Wenn Sie zwei Stücke Kuchen daraus machen, könnte ich es in Erwägung ziehen.''
Dr. Miller ließ ein kehliges Lachen erklingen.
,,Ich denke, dass ist machbar.''


~~~*~~~



,,Das glaube ich Ihnen nicht. Das ist völlig unmöglich!''
,,Wenn ich es Ihnen doch sage'', kicherte Alice. ,,Danach hat er mich nie wieder in Frage gestellt, im Gegenteil, er respektierte mich und mit ihm alle anderen.''
Kaum zu glauben, dachte er, so zierlich und soviel Mumm in den Knochen.
,,Sie sind wirklich äußerst außergewöhnlich'', sagte er vorsichtig, da er sie nicht kränken wollte.
Alice lachte auf.
,,Das höre ich nicht zum ersten Mal, aber ich sehe es als Kompliment. Also vielen Dank.'' Das fröhliche Lächeln, dass sie ihm schenkte, war nur all zu leicht zu erwidern. Insgeheim, musste er zugeben, dass er Alice wirklich unterschätz hatte. Er hatte sich, ebenso wie alle anderen, vom äußeren Schein täuschen lassen. Doch nun, bei näherer Betrachtung, musste er zugeben, dass Dr. Arkham vollkommen recht gehabt hatte. Sie war einfach unvergleichlich; so einzigartig, so vollkommen anders, als alles was er kannte, dass man gar nicht anders konnte, als fasziniert von ihr zu sein. Er wusste noch nicht so wirklich, was er von dieser Erkenntnis halten sollte, aber eins war ihm bereits jetzt vollkommen klar: dieser Augenblick, war wohl der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.


~~~*~~~



,,Was ist denn hier los?'', fragte Alice leise, die neben Dr. Miller Platz nahm. Er sah auf und lehnte sich ein Stück in seinem Stuhl zurück, um besser mit ihr reden zu können.
,,Dr. Arkham spricht gerade über die zu erhöhenden Sicherheitsvorkehrungen. Jetzt, da der Joker uns mit seiner Anwesenheit beehrt, und bereits seinen zugewiesenen Therapeuten getötet hat, sieht er sich unter anderem dazu gezwungen das Wachpersonal zu erhöhen. Sinnlos, wenn du mich fragst. Wenn der Kerl es darauf anlegt, dann wird das alles sowieso nichts nützen...sag mal,'', merkte er an, ,,kann es sein, dass du überhaupt nichts mitbekommen hast?''
Der Gesichtsausdruck der jungen Frau sprach Bände.
,,Kaum zu glauben!'', schallt sie der junge Doktor, ,,ich dachte, dir würde nie irgendetwas entgehen.''
Gerade als Alice ihm eine scharfzüngige Erwiderung liefern wollte, vernahm sie in unmittelbarer Nähe, Dr. Arkhams Stimme. Er klang müde und erschöpft.
,,Ich weiß, dass Sie alle in höchster Alarmbereitschaft sind. Und das nicht ohne Grund. Sie haben mit Sicherheit bereits erfahren, dass unser geschätzter Kollege Dr. Conner durch die Hand des Jokers gestorben ist. Ebenso die beiden Wärter, Mr. Collins und Mr. Anderson. Ich werde hier nicht ins Detail gehen, dennoch ist es, meines Erachtens, für den Zusammenhalt des gesamten Teams unerlässlich, dass ihre Opfer niemals in Vergessenheit geraten. Die Trauerfreier, zu der Sie alle herzlich eingeladen sind, wird in zwei Wochen stattfinden'' Der Doktor schritt weiter durch die Tischreihen, bis er in der Mitte des Saales stehen blieb.
Er rückte sein Brillengestell zurecht und fuhr fort: ,,Dies bringt mich zu einem weiteren unangenehmen Punkt. Irgendjemand von Ihnen muss Dr. Conners Part übernehmen.''
Ein Raunen, ein Gemurmel und Getuschel, ging durch die Reihen, dem Dr. Arkham Einhalt zu gebieten versuchte.
,,Bevor Sie ihre Entscheidung fällen, müssen Sie wissen, dass Sie niemals allein mit ihm sein werden. Es wird immer Jemand vom Wachpersonal an ihrer Seite sein. Der Joker wird so fixiert werden, dass er keine Bewegungsmöglichkeit hat. Er wird Ihnen nichts tun können, außer, wenn er den will, mit Ihnen zu sprechen.''
Mit einem Mal wurde es totenstill im Raum.

Keiner der zahlreichen Psychologen wagte es auch nur einen Ton von sich zu geben, niemand wollte diese Aufgabe übernehmen, und wohlmöglich sein eigenes Todesurteil unterschreiben.
,,Ich werde es tun'', erklang eine zarte, weibliche Stimme in den hinteren Reihen.
Und dann richtete sich jedes Augenpaar im Saal auf Alice White.

DämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt