Eigentlich war er schon immer alleine gewesen. Er war so alt, er erinnerte sich nicht mehr daran, irgendwann nicht alleine gewesen zu sein. Vielleicht war es ihm lieber so, vielleicht war es seine eigene Schuld, vielleicht war es Schicksal, vielleicht gab es einen ganz bestimmten Grund dafür. So könnte es sein. Er war mittlerweile sowieso der Meinung, dass das meiste einen Grund hatte.
Menschen verschwanden aus seinem Leben. Entweder weil sie es wollten, weil sie ihm wichtiger gewesen waren als er ihnen, oder weil er es gewollt hatte. Weil er irgendwann bemerkt hatte, dass sie ihm wichtiger waren als andersherum. In diesem Fall hatten sie ihn verloren, nicht er sie, denn wer braucht schon Menschen, die aus Langeweile Teil des Lebens von jemand anderem sind?
Er lehnte sich zurück im samtenen, tannengrünen Sessel und der Eichenboden knarrte unter der Gewichtsverlagerung. Manchmal war es einfach schön, so dazusitzen und dem Wetter zuzusehen, wenigstens bekam er von ihm auch mal einen Sonnenstrahl zu sehen. Oder zwei. Stürmische Tage gab es natürlich, es legt sich aber jede Unruhe auch wieder. Jedenfalls war das beim Wetter so. Selbstsüchtige, egoistische Menschen hatten seine Welt so oft in Unruhe gerissen, diese dauerte an, sie war nicht nach einigen Tagen verweht worden.
Er dachte, dass es traurig klingen musste, zu sagen, dass es ohne sie alle leichter war. Aber das war es nicht, er war eben alleine. Lieber alleine sein, als in Gesellschaft falscher Leute, die ihre ganze Energie verwenden, um einen Sturm über dein Leben ziehen zu lassen. Lieber alleine, als mit Menschen, von denen du denkst, du bedeutetest ihnen etwas, für die du tust, was du kannst und die sich nach und nach von dir entfernen, wenn der Nutzen dahin ist, wenn es nicht mehr richtig stürmt.
Er hatte sich selbst an erste Stelle gesetzt, irgendwann einmal, oder seine Arbeit, er konnte sich nicht erinnern. Aber so war es gut, so war er zufrieden, er hatte niemanden, der ihm gefährlich werden konnte und sich vor das sonnenbeleuchtete Fenster stellen konnte. Er musste niemanden an sich heranlassen, er kannte auch niemanden, bei dem er das wollte. Niemand konnte seine Gutmütigkeit ausnutzen. Jedem Menschen hatte er eine Chance gegeben – ach was – eher zehntausende. Er hatte Menschen früher an sich herangelassen, Vertrauen zugelassen, gekämpft, gelitten, es weiter versucht und noch einmal versucht... Er dachte, dass das damals fast hätte an Dummheit grenzen können - oder Naivität? Man kann vielleicht irgendwann denjenigen finden, bei dem es sich lohnt, sich verletzen zu lassen, aber es gibt keine Garantie. Das wusste er jetzt, er hatte sich den Menschen gegenüber verschlossen, aus Selbstschutz, um Wunden zu Narben werden zu lassen.
Es war besser so, er wusste es, redete es sich vielleicht auch ein. Es hatte alles seinen Grund, es sollte alles seinen Grund haben... Es waren eventuell auch Menschen einfach so aus seinem Leben verschwunden, weil es etwas Höheres gab, ob Gott oder eine andere höhere Macht, vielleicht Schicksal oder einfach der Zufall. Die Welt hört alles. Sie hatte Gespräche und Absichten belauscht und entdeckt, die dafür gesorgt hatten, dass Leute aus seinem Leben verschwanden. Er war zu gut, hatte zu viel zugelassen, war daran zerschellt, an seiner eigenen Offenheit und Gutmütigkeit, an seinem eigenen Sturm.
Deswegen war er alleine. Ja er war alleine, er dachte kaum darüber nach. Er war nämlich nicht einsam. Nur alleine. In Gesellschaft falscher Menschen hatte er sich einsamer gefühlt als in der langen Zeit, die er alleine verbracht hatte. Es war kalt gewesen.
Er hatte die Welt gesehen, er hatte gelebt, aber alleine, nicht einsam, aber alleine, das Leben zu teilen hätte einige Momente verschönern können, aber die Rücksichtslosigkeit unserer Spezies hatte ihn geschwächt, er war nun eingemauert. Bis oben hin. Unwetter kamen nicht durch diese Wand, nur manchmal ein Sonnenstrahl.
Er starb alleine in seinem grünen samtenen Sessel, im sonnendurchfluteten Wohnzimmer. Er wurde erst nach einigen Wochen gefunden. Niemand stand an seinem Grab, niemand, der verlogene Tränen hätte vergießen können.
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Nie alleine
Short StoryKurzgeschichte Es geht um den Umgang und den Selbstschutz vor Menschen, die verletzen.