Der Brief

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Sven griff den Vorschlaghammer und ließ ihn wie Thor durch die Luft kreisen. »Alter, das schaffen wir noch vor dem Abendessen! Wenn wir erst Lasagne im Bauch haben, wollen wir eh nur noch vor Netflix rumkullern!«

John bohrte die Hände in die Hosentaschen und gähnte wie ein Löwe. »Also, von mir aus können wir jetzt schon Feierabend machen! Diese gruselige Holzvertäfelung ist morgen auch noch da!«

Sven neigte den Kopf und sah seinen Mann gerührt an. Er gähnte vielleicht wie ein Löwe, aber er sah dabei eher so niedlich aus wie ein strubbeliges Löwenbaby, das mal eine imposante Mähne kriegen möchte. Irgendwann. In unbestimmter Zukunft. Sven war sich sicher, dass John als Hundertjähriger noch umwerfend niedlich aussehen würde.

Anna wuselte in das enge kleine Zimmer und schloss die Baustellenlampe an. »Wenn jetzt wieder die Sicherung raus fliegt, fackle ich unseren schnuckeligen kleinen Altbau ab und schließe einen Bausparvertrag ab!«

John lachte zufrieden. »Genau. Und dann machst du noch eine Banklehre und heiratest einen anständigen Kerl!«

Sven zielte mit dem Hammer und nickte. »Vielleicht einen Versicherungsvertreter.«

Anna stellte sich auf die Zehenspitzen, gab Sven einen sanften Kuss und nahm ihm gleichzeitig den Hammer weg. »Ich glaub gar nicht, dass der Herr Vertreter das mitmachen würde, wenn ich meine zwei Männer mitbringe.«

»Ach, den wickeln wir schon um den Finger, mach dir keine Sorgen! Wenn er John erst mal besser kennt, wird der ganz schnell flauschig!«

John ließ wie auf ein geheimes Zeichen die Brechstange in Annas ausgestreckte Hand gleiten und den Hammer verschwinden. Anna lächelte charmant und drückte Sven die Stange in die Hand. »Digger, ich weiß, du stammst von Asen ab, aber vielleicht versuchst du erst mal, mit diesem klitzekleinen, niedlichen Brecheisen diese formschöne Holzvertäfelung abzureißen.«

John verschränkte die Arme und nickte streng. »Wir wissen alle, was passiert ist, als du das letzte Mal mit dem Hammer auf unser Haus losgegangen bist!«

Anna nickte heftig. »Ja, wissen wir!«

Sven grinste breit und winkte ab. »Der kleine Rohrbruch, das war doch gar nichts! Vielmehr hatte diese kleine Sintflut eine kathartische Wirkung!«

»Ja, ich hätte nie gedacht, dass es dann doch so schnell geht, den braunen Plastikteppichboden rauszureißen!« Anna schaltete die Lampe ein, blieb für einen Moment geblendet stehen und blinzelte dann zufrieden. »Sicherung hält! Kannst loslegen!«

Sven seufzte enttäuscht, dann ging er mit der Brechstange auf die Wand los. Das morsche Holz knackte störrisch, dann brach ein Schwall von Brettern von der Wand ab. Der Krach war mörderisch. Für einen Moment standen die drei hustend in der Staubwolke, dann bückte John sich nach einem vergilbten Umschlag. »Habt ihr wieder eure Steuerunterlagen nicht eingereicht?«

Sven zupfte ihm den Umschlag aus der Hand. »Vielleicht ist das die zweite Hälfte von dem kaputten Zwanzigmarkschein, den wir hinter der Badewanne gefunden haben! Wir könnten mit dem Geld mal wieder richtig einen drauf machen!«

John trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Jetzt mach schon auf!«

Sven drehte den Umschlag hin und her, dann öffnete er ihn und zog ein Stück Papier heraus. »Was zur Hölle ist das für eine Sprache?«

Anna rupfte ihm den Zettel aus den Händen. »Das ist Sütterlin, du digitaler Nordmann! Das kennt ihr jungen Dinger heute gar nicht mehr!«

John murmelte: »Vielleicht ist es auch Kurrent. Also, wenn die Aufstriche dünner sind als die Abstriche ...«

Sven rollte stöhnend mit den Augen. »Wieso muss ich mit solchen Nerds Tisch und Bett teilen?«

John gab ihm einen Wink und Sven verstummte. Beide beobachteten, wie Anna stumm die Lippen bewegte. »Oh, mein Gott.«

Anna wandte sich ab und wischte sich über die Augen. John zog ihr vorsichtig den Brief aus der Hand und las leise vor. »Liebster Hans, ich bete und hoffe, dass du diesen Brief findest und in Sicherheit bist. Als du nicht auf dem Bahnhof warst, konnte ich das Land nicht verlassen. Nicht ohne dich, niemals ohne dich. Ich werde jeden Sonntag an unserem Treffpunkt auf dich warten, bis ich dich wiedersehe. Wenn es sein muss, solange ich lebe. In ewiger Liebe, Rolf.«

John sah auf. »Der Brief ist vom 18. November 1940.«

Sven legte den Kopf in den Nacken und murmelte betroffen: »Ach, du Scheiße!«

John presste die Lippen aufeinander und drehte den Umschlag wieder hin und her. »Keine Adresse, kein Absender, keine Briefmarke. Er muss ihn irgendwo hinterlegt haben.«

Anna drehte sich zu ihren Männern um und wischte sich Tränen von der Wange. Furchtsam flüsterte sie: »Ob die beiden überlebt haben?«

Sven strich ihr sanft über den Arm. »Kleene, es war zwar Krieg, aber vielleicht hatten sie Glück!«

»Glück?« Anna heulte jetzt eher vor Wut. »Sie waren schwul! Sie haben sich geliebt! Wenn sie Glück hatten, wurden schwule Männer nur an die Ostfront geschickt! Wenn sie Pech hatten, kamen sie ins KZ und mussten den Rosa Winkel auf der Häftlingsuniform tragen!«

Sven wandte verstört den Kopf ab und holte tief Luft.

Anna ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich an die Wand. »Kann mal einer diese scheiß grelle Lampe ausmachen?«

John zog den Stecker, setzte sich zu ihr und verschränkte die Arme auf den Knien. Er hielt noch immer den Brief in der Hand. »Könnt ihr euch das vorstellen? Dass nachts die Polizei in eure Wohnung eindringt, euch aus dem Bett zerrt, zum Verhör verschleppt und zusammenschlägt, bis ihr Namen verratet? Weil euer einziges Verbrechen die Liebe ist? Weil ihr zufällig pansexuell seid und euch in Menschen verliebt, nicht in Geschlechter?«

Sven sah John mahnend an und legte mit einem Blick auf Anna den Finger an die Lippen. Anna ließ den Kopf hängen und heulte einfach nur leise. Sven setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. Ganz sanft flüsterte er: »Alles okay, Kleene, wir sind in Sicherheit.«

Anna hob den Kopf und schniefte leise. Abwechselnd sah sie ihre Männer an, dann flüsterte sie heiser: »Ich hab manchmal so unglaubliche Angst um euch! Ich hab keine Ahnung, was ich machen sollte, wenn ich einen von euch verlieren würde! Weil irgendwelche Schwulenhasser euch was antun!«

Die drei umarmten sich stumm und saßen gemeinsam da, bis die Lasagne im Ofen verbrannt war. Und die ganze Zeit hielt John den zerknitterten Brief aus einer fernen dunklen Zeit in der Hand.


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Der Brief - Eine polyamore KurzgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt