Prolog: Sommerferien (und alles wird anders)

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"Lena, ich weiß, das ist viel, was ich da von dir verlange...aber ich bitte dich. Henry ist kein einfacher Junge. Ich befürchte, die zehn Jahre bei seinem Vater..."  Ralas Stimme brach und sie versuchte mühsam, ein Schluchzen zurückzuhalten, was ihr nicht gelang. Die junge Frau seufzte tief. "Findest du es nicht besser, wenn du das selbst machst? Du bist immerhin seine Mutter."  "Ich...ich weiß, aber ich kann einfach nicht...ich kann nicht zurück nach Derry. Noch nicht."  "Also gut. ich mache es. Ich kümmere mich um Henry. Ich kann nur hoffen, dass es nicht so schlimm wird, wie ich befürchte."  Lena trat neben Rala und legte ihr die Hand auf die Schulter. Die dunkelblonde Frau mit den blauen Augen blickte auf. "Danke. Ich weiß, dass er bei dir in guten Händen ist. Ich werde nachkommen, sobald ich dazu bereit bin." Oskar Bowers war vor einer Woche bei einem Einsatz ernsthaft verletzt worden und lag im Koma. Lena war eine gute Freundin von Henrys Mutter, die seinen Vater und ihn vor knapp zehn Jahren verlassen hatte und seitdem nie mehr in Derry gewesen war. Bis es klar war, wie es mit Oskar "Butch" Bowers weitergehen würde, würde Henry entweder in ein Heim kommen oder bei ihr wohnen. Er wusste noch nichts von seinem Glück. Ihm das zu erklären, könnte sich als schwierig erweisen; so, wie Rala seinen Vater geschildert hatte, konnte es gut sein, dass Henry gewalttätig und aggressiv war. "Ich packe jetzt meine Sachen gar zusammen und fahre nach Derry. Es sind ja nur zwei Stunden. Hast du vielleicht ein Foto oder so? Sonst wird es schwer, ihn zu finden. Ich weiß ja gar nicht, wie er aussieht."  Mit zittrigen Händen suchte Rala ihren Geldbeutel und zog dann ein recht zerknitterter Foto heraus, das sie mir gab. "Das ist er. Da war er gerade sieben geworden."  "Er hat deine Augen." 

Es war der Anfang der Sommerferien; Henry saß mit seinen Kumpels im Kino und sah sich den neuesten Horrorfilm "The fog" an; er ließ sich nicht viel anmerken; dass sein Vater schwer verwundet worden war und im Koma lag, war ihm nach außen ziemlich egal. Es bedeutete nicht, dass er die Jugendlichen von Derry diesen Sommer in Ruhe lassen würde. Gerade war sein kleiner Cousin zu Besuch und innerhalb dieser paar Tage war sein Vater angeschossen worden; um ihn ein wenig abzulenken, hatte Henry ihn hierher mitgenommen, aber da der Film ab 16 war, durfte er nicht mit rein; er spielte draußen an den Automaten, während die vier Jungs in der Vorstellung saßen. Mit Patrick, Victor und Belsh sprach er nicht über das, was da geschehen war und die drei wussten, dass sie ihn besser nicht danach fragten. Er war gereizt genug. Gerade kamen sie aus der Vorstellung; Victor und Belsh bewarfen sich gegenseitig mit Popcorn, während Henry zu seinem Cousin herüberging; der war gerade in ein Gespräch mit dem Idioten Tozier verwickelt und es sah nicht so aus, als wäre ihm das recht. Henry zog misstrauisch seine Augenbrauen zusammen. "Hey, was ist denn hier los?" Er sah, dass Tozier nervös umher sah und versuchte, die Situation runterzuspielen, aber Henry hatte genug gesehen. Patrick kam neben ihn und grinste dämlich. Sein kleiner Cousin wich etwas zurück. "Wieso habt ihr Idioten mir nicht gesagt, dass eure scheiß Stadt tuntenverseucht ist?!"  "Hör mal Henry, das ist gar nicht so, wie du denkst, ich wollte nur-"  "Was wolltest du? Meinen kleinen Cousin vögeln?" Richie wusste nicht, was er sagen sollte, als die vier Jungs und die restlichen Kinder ihn anstarrten. Jetzt reichte es Henry: "Verpiss dich, du scheiß Schwuchtel! Scheiße, beweg dich!" Gerade, als der Junge rückwärts aus dem Kino stolperte, hielt draußen ein Wagen an. 

Lena hatte die Szene mitbekommen und betrat das Kino; sie sah erneut auf das Foto; konnte der mittlere Junge da nicht sogar Henry Bowers sein? Doch zunächst einmal hielt sie den jüngeren am Arm fest. "Wo willst du denn so schnell hin? Du wirst dir das doch wohl nicht gefallen lassen?" Verschreckt sah er sie an. "Wer...wer sind Sie denn?" "Das ist jetzt  nicht so wichtig, wir müssen das hier erstmal klar stellen." Sie zog ihn wieder ins Kino zurück. "Nein, bitte...ich muss weg."  "Musst du nicht. Hey, ihr da!" Die vier Jungen, oder besser fünf mit dem jüngeren, waren schon wieder auf dem Weg zurück in die nächste Vorstellung. Sie blieben stehen und zwei von ihnen drehten sich zu Lena um; "Redest du mit uns?"  "Ja, ich rede mit euch. Henry Bowers?"  -  "Du bist doch Henry Bowers, oder?"  "Wer will das wissen?" Der dunkelblonde Teenager mit dem Vokuhila sah sie gereizt an. "Dein Vater liegt im Krankenhaus und es ist nicht sicher, ob er wieder aufwacht." Henry warf seinen Jungs Blicke zu, dass sie sich etwas entfernten. "Das habe ich in den letzten sieben Tagen ungefähr eine Million Mal gehört. Sonst noch was?!"  "Deine Mutter schickt mich." Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit. "Wie bitte?"  "Rala Madison ist doch deine Mutter, oder nicht?"  Henrys Auge zuckte und seine gesamte Anspannung galt nun der jungen Frau vor ihm. "Woher kennst du meine Mutter?"  Sie zuckte mit den Schultern. "Wie man sich eben so kennenlernt. Hier, ich habe ein Foto von ihr bei mir. Du hast ihre Augen."  Henry nahm das Foto an sich und sah es sehr konzentriert an. Einen Moment sagte er gar nichts, dann hob er den Blick langsam wieder. "Was willst du hier? Wer bist du?"  "Mein Name ist Lena Wellington. Deine Mutter schickt mich, wie ich schon sagte. Ich habe die Pflegevollmacht von ihr übertragen bekommen. das heißt, bis dein Vater wieder auf den Beinen ist, kümmere ich mich um dich."  Henry gab ein verächtliches Geräusch von sich. "Ja, das sieht ihr ähnlich. Dass sie jemanden schickt, statt selbst herzukommen, dieses feige Weib! Du kannst ihr ausrichten, dass ich darauf pfeife!"  "Vorsicht!", unterbrach Lena ihn. "Beleidige Rala Madison nicht, wenn ich dabei bin, mein Freund!"  Henry baute sich vor ihr auf. "Ich beleidige wen ich will und wann ich will, kapiert?!"  "Du bist also bereit, von hier aus direkt ins Heim zu wandern? Das ist nämlich das nächste, was jetzt passieren wird, wenn du nicht einlenkst. Ich pack dich ein und das war es." Henry starrte sie finster an. "Nix mehr rumhängen, rumfahren und andere Kinder beleidigen, aus. Für die nächsten Monate. Das ist doch den Sommer nicht wert. " Victor und Belsh sahen tatsächlich besorgt aus. Henry knirschte mit den Zähnen. Er sah zu Patrick. Der zuckte nur mit den Schultern. Jetzt reichte es Henry: "Ist es meine Schuld, dass dieser Pisser meinen Cousin anbaggert?!"  "Warum regst du dich überhaupt so auf, ich schwöre dir, von deinen tollen Kumpels dahinten ist mindestens einer schwul."  Henry gaffte Lena an. "Okay, ich sehe schon, das führt zu nichts. Los, steig ins Auto, ich bring dich zu mir."  Sie drehte sich zu Richie um. "Deine Entschuldigung kriegst du noch, ist fest versprochen." 


Henry weigerte sich zunächst, aus dem Auto zu steigen, als Lena angehalten hatte. Stumm und ohne sich umzublicken saß er da. Lena stellte den Motor ab. Sie hielten zunächst bei dem Haus der Bowers an, um einige seiner Sachen zu holen. "Gut. Würdest du dann vielleicht kurz reingehen und deine Klamotten holen?"  Endlich blickte er auf; ohne ein Wort zu sagen stieg er aus und ging auf das Haus zu. 

Kurz darauf kamen sie bei Lenas Haus an. Misstrauisch blickte Henry sich in der Küche um, als sie die Tür aufgesperrt hatte. Sein erster Eindruck war, dass alles viel ordentlicher war als bei seinem Vater. Keine einzige Flasche stand herum. Es roch nicht nach Rauch. Kein dreckiges Geschirr. Er stellte seine Tasche in den Flur. "Ist ja nett hier."  Sie kam ihm hinterher. "Das freut mich. Du wirst einige Zeit hier sein. Dein Zimmer ist oben." 

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