Maskerade

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,,Sir, ich werde die Diskussion nicht noch einmal mit Ihnen führen. Meine Entscheidung steht fest!''
,,Wie kann man nur so dickköpfig und stur sein!'', rief Dr. Arkham wütend.
Er rieb sich über seine Nasenwurzel, spürend, dass sich langsam aber stetig eine Migräne anbahnte. Er öffnete langsam seine Augen und sah Alice über seine Brillengläser hinweg an. Ihm war beinahe so, als sehe er nun ihren Vater vor sich, dieselbe Starrköpfigkeit, das gleiche Feuer, dieselbe ungesunde Neigung, jede Autorität in Frage zu stellen.
Hilfe suchend wandte er sich schließlich an Dr. Miller, der ein paar Schritte entfernt von ihm stand. Der junge Arzt quittierte seinen Blick mit einem Schulterzucken und den, für ihn wenig hilfreichen Worten:
,,Wenn Sie mich fragen, dann denke ich, dass Alice es vielleicht versuchen sollte.''
Dem älteren Doktor klappte die Kinnlade herunter.
,,Ist das Ihr verdammter Ernst?! Vor ein paar Tagen, haben Sie mich noch davor gewarnt, Alice in weitere gefährliche Situationen zu bringen, und jetzt fallen Sie mir in den Rücken?!''
,,Bei allem nötigen Respekt, Sir, aber Sie waren derjenige, der mir dazu geraten hat, Ihr zu vertrauen'', konterte der Beklagte. ,,Und das tue ich jetzt. Vielleicht, ja, vielleicht kann sie tatsächlich etwas erreichen. Und wenn nicht, dann wird der Dreckskerl eben für immer in seiner Zelle hocken.''
So sehr Dr. Arkham auch wetterte und zeterte, dieses Mal musste er sich endgültig geschlagen geben.


                                                                            ~~~*~~~


,,Und nervös?'', erkundigte sich Dr. Miller, der am nächsten gemeinsam mit Alice durch die Gänge schritt.
,,Ein wenig'', gestand diese.
Und wer würde es ihr verübeln? Schließlich war das hier der Joker, nicht irgendein dahergelaufener Kleinkrimineller, der sich einen Spaß daraus machte ein paar Banken auszurauben. Dieser Mann, dem sie gleich gegenüber treten würde, hatte Menschen getötet. Brutal, mitleidlos, rücksichtslos.
Gnadenlos
,,Verständlich'', sagte der Doktor, ,,aber ich glaube, du wirst dich ganz gut schlagen.''
,,Wir werden sehen.''
,,Nur vergiss eins nicht'', sprach er eindringlicher, als er ihren Blindenstock entgegen nahm und neben der Tür abstellte, durch die sie gleich schreiten würde. ,,Wenn er überhaupt mit dir sprechen sollte, wird er wahrscheinlich alles daran setzten, dich auf irgendeine Weise zu provozieren. Um eine Schwachstelle zu finden, die er dann zu seinem Vorteil nutzen kann. Vielleicht versuchst du, zur Abwechslung mal, nicht darauf einzugehen, ok?''
Jetzt konnte sich Alice es nicht mehr verkneifen mit den Augen zu rollen.
,,Jetzt reicht es aber'', seufzte sie genervt, ,,wollen wir jetzt die gleiche Diskussion führen, die wir gestern mit Dr. Arkham hatten?''
Das wollte Sam mit Sicherheit nicht riskieren.
Also verabschiedete er sich und ließ Alice endlich allein.

Diese atmete noch einmal tief durch und betrat dann den Therapieraum. Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wurde sie sogleich vom Sicherheitspersonal begrüßt. Der Mann klang jung, ein wenig unerfahren, doch vor allem äußerst angespannt. Daraus schloss Alice, dass sich der Joker bereits im Zimmer befand. Sie nahm Platz, legte ihr Tonbandgerät auf den Tisch und begrüßte ihn, erhielt jedoch, wie sie bereits vermutet hatte, keine Antwort. Nach zwei weiteren Anläufen, bei denen sie noch immer keine Reaktion erhielt, entschied sie sich dazu, einen gänzlich anderen Weg einzuschlagen.

,,Sir?'', richtete sie das Wort an den Wärter, der mit dem Rücken zur Wand stand und den Joker, nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. ,,Ich hätte zwei Bitten an Sie: Könnten Sie bitte so freundlich sein, den Raum zu verlassen? Und würden Sie dem Joker vorher die Zwangsjacke abnehmen?''
Der junge Mann sah sie fassungslos an.
,,Sind Sie sich da sicher, Miss White'', fragte er, seine Stimme zitterte. ,,Ich möchte keinen Ärger bekommen und ich glaube nicht, dass das eine so gute Idee ist.''
,,Schon gut, Sir. Dann gehen Sie einfach nur, ich werde es selbst tun.''
,,Wie, Was, Warum?'', stammelte er, ,,aber wenn irgendetwas passiert, was-''
,,Dann'', unterbrach ihn Alice sanft, ,,werden Sie die Wahrheit sagen. Sie werden sagen, dass ich Sie darum gebeten habe, mich allein mit ihm zu lassen. Niemand wird Ihnen Vorwürfe machen, es wäre meine eigene Schuld.''
,,Aber das kann ich nicht, Miss White!'', protestierte er vehement. ,,Sehen Sie ihn sich doch an, wie er Sie anstarrt, er ist ein Freak, wer weiß was er mit Ihnen vor hat!''
Erst als die junge Frau tief aufseufzte, wurde dem Mann klar, was er gerade gesagt hatte. Alice konnte weder seine Blicke, noch die Person selbst sehen.
Sie würde niemals irgendetwas sehen können.
,,Ich, ich, es tut mir Leid, ich wollte nicht-''
,,Bitte'', wiederholte die junge Frau noch einmal, ohne auf seine vorherigen Worte einzugehen. ,,Gehen Sie jetzt.''
Dies war der Moment, in dem der Joker zum ersten Mal, nicht nur der jungen Frau, sondern auch dem Mann seine Aufmerksamkeit schenkte. Er beobachtete ihn interessiert, denn er fragte sich, was eigentlich gerade vor sich ging. Irgendwie hatte er wohl den roten Faden verloren.
Und eben jener durchbohrende Blick, war ausschlaggebend dafür, dass der Mann letztendlich kapitulierte.
,,Ganz wie Sie wünschen, Miss White, aber ich werde in der Nähe bleiben'', gab er ihr zu verstehen, bevor er, mit einem letzten unsichern Blick auf den geschminkten Wahnsinnigen, den Raum verließ und die Tür hinter sich verschloss. Nun waren sie beide vollkommen allein.
,,Wie Sie gerade selbst gehört haben, werde ich jetzt gleich Ihre Fixierung lösen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür aufstehen und vollkommen still halten könnten. Denken Sie, dass wäre im Rahmen der Möglichkeiten?''
Ihr Gegenüber antworte noch immer nicht, das Einzige was sie vernahm, war das leise Geräusch seines Atems.

Doch dann, nach wenigen Sekunden, hörte sie, dass er sich endlich bewegte. Sie erhob sich ebenso, trat langsam auf ihn zu und streckte ihre Hand aus, um in einer fließenden Bewegung nach den Verschlüssen der Jacke zu suchen und diese zu lösen.
Jetzt da sie ihm so nah war, bemerkte sie, dass seiner Haut ein leichter Duft von Benzin anhaftete.

Seine Gelenke knackten hörbar, als der Clown seine Muskeln dehnte und streckte.
,,So ist es besser nicht wahr?'', fragte die junge Frau, während sie den schweren Stoff zur Seite legte.
Ihre dunklen weichen Locken streiften seinen freien Unterarm. Die schwarzen Augen des Jokers schnellten zu ihrem Gesicht, neugierig neigte er seinen Kopf zur Seite, denn irgendetwas, eine klitzekleine Kleinigkeit, stimmte scheinbar ganz und gar nicht.
Es kam ihm beinahe so vor, als wollte sie ihn gar nicht wirklich ansehen.
Und diese Erkenntnis, ließ ihn den unbändigen Wunsch verspüren, sie dazu zu zwingen.
Blitzschnell hatte er ihre Handgelenke mit einer Hand gepackt, warf sie auf die Tischplatte und drückte sie mit all seiner Kraft hinunter. Keuchend entwich ihren Lungen die Luft. Während der Joker seinen Blick über ihr hübsches Gesicht wandern ließ, wanderte seine Zunge über die Innenseite seiner Narben. Grob streifte er ihr Haar zur Seite, damit er ihre Augen besser sehen konnte. Damit sie ihn besser sehen konnte. All den Schrecken und das Grauen. Sie waren schön geformt, mit einem Kranz aus dichten dunklen Wimpern.
Und dann, dann sah er es...

,,Sag mal, Schätzchen'', sprach der Clown, nun zum aller ersten Mal. Seine Stimme war tief, bedrohlich. ,,Seit wann, schließt Dr. Arkham Verträge mit Leuten, die ihre Patienten nicht einmal sehen können?''
Alice zog scharf die Luft ein, spürte wie ihr die Hitze in die Wangen schoss.
,,Haben Sie ein Problem damit?'', fragte sie und versuchte ihre Handgelenke aus seinem schmerzhaften Griff zu befreien. ,,Stört es Sie, dass ich blind bin?''
Der Joker grinste breit, beugte sich einige Zentimeter hinab, bis sein grüngefärbtes Haar beinahe ihre Haut berührte. Er ließ seinen Daumen über ihr Unterlid wandern, beobachtete wie ihre verfärbten Pupillen nach ihm suchten, jedoch nichts fanden, und antwortete:
,,Nein...nein, ich denke das stört mich nicht.''
,,Ganz ausgezeichnet'', ließ Alice ihn wissen. ,,Würden Sie mich dann loslassen, damit wie fortfahren können?''
Der Joker verlagert sein Gewicht.
,,Womit denn fortfahren, Schönheit? Wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen! Was willst du denn wissen, hm? Meine dunkelsten Geheimnissen? Meine ersten Kindheitserinnerungen? Vielleicht, meine Lieblingsfarbe? Wo wir gerade dabei sind, es ist unter anderem Rot. Aber, nein, nein, NEIN, das ist mir alles viiiiel zu langweilig. Ich könnte dir stattdessen erzählen, woher diese Narben stammen.''
,,Welche Narben?'', fragte sie überrascht.
Schminke, Clownsgesicht, pechschwarze Augen, aber Narben? Niemand hatte ihr etwas von irgendwelchen Narben erzählt. Oder etwa doch? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.

Der geschminkte Mann ließ ein gurrendes Lachen erklingen. Es wird doch tatsächlich immer interessanter, stellte er entzückt fest.
,,Willst du sie sehen?'', fragte er, betonte das Wort absichtlich, wissend, dass sie es natürlich nicht konnte.
Ohne ihre Antwort abzuwarten, führte er ihre linke Hand zu seinem Gesicht und presste sie gegen seinen rechten Mundwinkel. Zu seinem Erstaunen, wich die junge Frau jedoch nicht zurück, sondern begann, ganz langsam und behutsam, Form und Struktur des Gewebes zu erkunden. Es war interessant, sie dabei zu beobachten. Sie war hochkonzentriert und äußerst bedacht darauf sich jede Erhebung einzuprägen. In jenem Augenblick, als ihr Daumen über einen Teil seiner Lippen glitt, glitt ein Schauer über seine Wirbelsäule.
,,Habe ich Ihnen wehgetan?'', hauchte Alice und ließ ihre Finger auf halber Strecke ruhen. Wieder lachte der Clown kurz auf.
,,Oh, Täubchen'', kicherte er vor sich hin, ,,du solltest dich lieber darum sorgen, ob ich nicht dir wehtue.''
,,Wollen Sie das denn?'', fragte Alice und ließ damit sein Lachen verstummen.

Es war nicht allein die Frage an sich, die ihn so sehr überraschte, sondern vielmehr, die Art, wie sie sie gestellt hatte. Da lag die blinde Frau nun, ausgeliefert, hilflos -denn wenn er wirklich gewollt hätte, könnte er sie hier und jetzt töten- doch anstatt um ihr Leben zu betteln und zu flehen, stellte das kleine Ding eben jene Frage, die sie mit Sicherheit nicht vor ihm retten würde. Nicht das es irgendetwas genützt hätte. Aber die Tatsache, dass sie es dennoch nicht tat, irritierte ihn über alle Maßen.
,,Also, entweder'', entschied der Joker, ,,bist du vollkommen lebensmüde, oder schlicht und ergreifend...verrückt.''
Das letzte Wort, glich mehr einem Knurren, als einer klaren Silbe.
Gerade als Alice etwas darauf erwidern wollte, wurde die verschlossene Tür so schwungvoll geöffnet, dass sie beinahe aus den Angeln fiel.

,,Es ist mir scheißegal, was Sie Ihnen gesagt hat! Ich-''
Dr. Miller blieb wie angewurzelt stehen. In den ersten Sekunden realisierte er überhaupt nicht, was er da gerade vor sich sah. Es war der Wärter, der schneller reagierte, der rief:
,,Nimm deine dreckigen Hände von ihr, du Freak!''
Der Angesprochene sah auf und leckte sich kurz über seinen rechten Mundwinkel.
,,Aber warum denn?'', fragte er, gespielt enttäuscht, presste ihre Handgelenke wieder auf die Tischplatte und sein Becken gegen ihr Schambein. ,,Jetzt, da wir gerade so viel Spaß haben.''
Alice ahnte welches Bild er den beiden Männern darbot, aber ebenso wusste sie auch, dass es dem Joker hierbei einzig und allein darum ging, einen der beiden zu provozieren und zu einer wohlmöglich unüberlegten Handlung zu treiben.
Mehr war es nicht: Ein Schauspiel, eine Maskerade, der erste Akt seines Theaterstücks.
Und der junge heldenhafte Arzt reagierte genauso, wie er gehofft hatte. Er fletschte beinahe die Zähne als er knurrte:
,,Ich sage es dir ein aller letztes Mal, du kranker Irrer: Lass sie los! Oder du wirst es bereuen!''
Das Gesicht des Jokers verzog sich zu einer furchterregenden Fratze. Aus seiner Brust quoll ein grauenhaftes Lachen hervor, das an jeder Ecke des Raumes widerhallte.
Er schien nur noch aus seinem Grinsen zu bestehen.
,,Dann zeig mal, was du drauf hast, du Held'', forderte er den Doktor auf.
Wie gerne hätte dieser dem Clown, dieses nervtötende Lächeln aus dem Gesicht geprügelt. Aber er wusste, dass dies nicht die richtige Strategie war.
Der Joker wartete nur darauf, dass er irgendeinen folgenschweren Fehler machte, und wahrscheinlich würde er das Ganze auch noch genießen.
Wieder war der Wärter derjenige der endlich handelte.
Er zog seinen Taser, zielte, schoss, und verpasste dem Joker einen Stromschlag.
Alle Muskeln in seinem Körper spannten sich schlagartig an und dann sackte der Clown bewegungslos auf dem Boden zusammen.
Das Lächeln auf seinem Gesicht zu einer Maske erstarrt.

DämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt