Kaffee für 3,50

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Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Oktoberluft ehe sie die Maske über Mund und Nase zog. Sie hörte, wie die schwere Holztür ins Schloss fiel und das klackernde Geräusch der Absätze ihrer Stiefel auf dem feuchten Kopfsteinpflaster. Sie hatte ein Ziel, einen Plan für den Nachmittag- Kaffee trinken und ihre Verabredung wartete schon. Mit zügigen Schritten lief sie los, die spröden, trockenen Hände tief in den Manteltaschen, die Schultern hochgezogen.

Es war kalt, denn es war Ende Oktober. Dichter Nebel verhinderte die Weitsicht und die frische Luft schnitt ihr in Gesicht. Nur zehn Minuten bekannter Fußweg durch die gottverlassene Altstadt. Die Fachwerkhäuser lagen still und verträumt links und rechts neben ihr. Die Straßen waren fast leer. Selten fuhr ein Auto vorbei, ein Passant auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der seinen Hund, einen Dackel, ausführte, dessen Geschirr bei jedem kleinen Schritt klimperte wie Weihnachtsglöckchen.
Sie ließ ihre Gedanken schweifen, dachte an den vergangenen nicht passierten Sommer in häuslicher Isolation, dachte an Weihnachten- ach Weihnachten!- und welchen Kaffee sie später bestellen sollte. Kleinigkeiten bekamen in solchen Zeiten große Bedeutung beigemessen, jedes Stück Normalität war wertvoll und in diesen unsicheren Zeiten erschien selbst das Unmögliche möglich, als wäre ein Schleier zwischen Welten und einem unbekannten Paralleluniversum gefallen.

Sie seufzte. Ein Stück Normalität für 3,50€. Sie hob nun ihren Blick, sah, wie ihr eine Person entgegenkam, sie wich aus, an den Rand- Abstand halten war wichtig- und doch, als sie die vertraute Augenpartie sah, die wirren braunen Haare, diese Statur auf 1,75, erstarrte sie. Die Person, ein Mann, der Mann hielt inne, blieb stehen, sie musterten sich in Neugier und Überraschung der Erkenntnis. Ungesagte Worte hingen in der Luft von damals und von heute, denn wer hätte schon mit einem Widersehen- unter diesen Umständen!- gerechnet?
„Du bist wieder hier", sagte sie. Oder war es eine Frage, die Andeutung eines „Warum hast du mich im Stich gelassen?". Doch für Anschuldigungen war nicht der richtige Moment, dieser wäre vor acht Jahren gewesen und verjährte Schuld nicht für ein Verbrechen, das nie begangen worden war?
Er nickte. „Du bist wohl auf dem Sprung?"
Sie hatte vor die Wahrheit zu sagen. Dass jemand auf sie wartete mit einem Kaffee für 3,50€, dass sie nicht konnte und auch nie wieder können würde, vor allem nicht für ihn, doch sie log, denn war bliebe ihr sonst übrig, wenn ihr nun diese Unwahrscheinlichkeit gewährt worden war.
„Nein, ich bin nur spazieren." Wenn doch jede Lüge so leicht wäre! „Du hast wohl schon was vor?"
Er schüttelte den Kopf. Die Unterhaltung war erzwungen, keine Leichtigkeit wie vor acht Jahren, keinerlei Vertrautheit, doch wie sollte das möglich sein nach all den falschen und gebrochenen Versprechen? Sein Blick wanderte kurz unsicher nach unten, überlegend, dann sah er ihr wieder in die Augen, fesselnd und unausweichlich.
„Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?", fragte er.
„Ja gerne"
Es war nicht nur ein Ja für ein koffeinhaltiges Heißgetränk, es war ein Ja zu „Lass uns darüber reden, was damals passiert ist". Ein Ja zu „Ich würde dich wieder in mein Leben lassen". Kurze Schuld durchfuhr sie, als sie in die Richtung gingen, aus der sie gekommen war. Zum ersten Mal versetze sie jemanden und wenn dies kein triftiger Grund war, würde es keinen anderen geben. Er bot ihr seinen Arm, wie ein Gentleman aus längst vergangenen Zeiten und sie hakte sich unter, Stromschläge, ein Kribbeln bis in die Kopfhaut zur Folge, etwas, das sie acht Jahre nicht gespürt hatte, vielleicht auch nicht hatte spüren wollen, da ihr Herz gebrochen und nicht wieder geheilt war.

Und Arm unter Arm liefen sie durch den Nebel, schweigend, obwohl sie so viel hätten sagen können, als könnte das dünne Band, das sie soeben geknüpft hatten, direkt wieder zerreißen. Sie bewegten sich auf dünnem Eis. Jemand- sie?- könnte so leicht verletzt werden. Wie damals. Für eine Liebelei, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen war. Und doch lief sie nun neben ihm, dem Mann der ihr so großes Leid beschert hatte. Vielleicht war es diese Zeit der Unmöglichkeit, dass sie es wagte. Oder der Funken einer Hoffnung an dem sie sich nicht verbrennen würde.
Sie musterte ihn von der Seite, eindringlich prägte sie sich jedes Detail ein, feststellend, dass dies kein Traum war, aus dem sie bald erwachen würde. Schließlich fanden sie ein Café- drinnen war es warm und behaglich und es duftete nach frisch gemahlenen Kaffeebohnen und zuckrigem Gebäck. Sie legten die Mäntel und Masken ab, saßen sich nun gegenüber und blickten sich verlegen an? Was sollten sie sich sagen? Sie beide waren älter geworden, hatten genug Zeit gehabt zu reflektieren, die Vergangenheit zu vergessen, vergessen was einst geschehen war, zwischen ihnen, mit ihnen. Gab es überhaupt was zu sagen?
Sie bestellte sich einen Kaffee für 3,50€, öffnete den Mund und flüsterte leise: „Du bist es wirklich". Ihre Hand brannte von der Hitze der Tasse, doch sie ließ nicht los, sondern umklammerte weiter krampfhaft das weiße Porzellan, als würde Schmerz bestätigen, dass dies die Realität war.
„Es tut mir Leid", sagte er daraufhin und sie wussten beide, wem und was diese Entschuldigung galt. Doch was sollte sie darauf erwidern? Reue machte die Dinge nicht ungeschehen. Sie schwieg.
„Ich hätte damals die Situation nicht ausnutzen sollen" Er hätte SIE nicht ausnutzen sollen.
„Du hättest nicht einfach ohne eine Erklärung abhauen sollen", erwiderte sie. Ungewissheit war meist schmerzhafter als der Verlust, das wusste sie.
„Ich hatte keine andere Wahl" Gelogen. Feige war er. Und sie war sein Geheimnis gewesen, sein kleines schmutziges Geheimnis. Natürlich hatte er einfach so gehen können. Eine Diskussion, ein Streit, eine Auseinandersetzung war nun sinnlos. Was geschehen war, war geschehen. Verlorene Zeit konnte niemand zurückholen.
„Was führt dich hierher zurück? Vor allem jetzt?", fragte sie und nahm einen Schluck Kaffee. Heiß und bitter rann er ihr die Kehle herunter.
„Ich bin bereits seit vier Monaten in der Stadt", gab er zur Antwort. Vier Monate. 120 Tage war er wieder in unmittelbarer Reichweite. 120 Tage zuvor hatte sie keinen einzigen Gedanken an ihn verschwendet und nun war er wieder omnipräsent und sie spürte, wie sich ihr Weltbild, das Zentrum ihrer Existenz, wieder verschob. Alte Laster ließen sich wohl kaum ablegen. Wie hatte es sein können, dass sie sich in dieser Zeit nicht ein einziges Mal begegnet waren?
So oft war sie draußen gewesen, mitten in der Stadt, auf den großen Plätzen, in den Bars und Cafés, in den Parks, in den Zügen, Bussen und Straßenbahnen, überall und doch war sie ihm nirgendwo begegnet. Kein Zufälliges Erblicken. Vier Monate und sie hatte es nicht gewusst. Und wenn, hätte sie dann anders gehandelt?
Sie nahm noch einen Schluck Kaffee und wünschte sich, es sei Wein, der einem schnell zu Kopf steig und einem die schlimmsten Dinge, die einem einst widerfahren waren, vergessen ließ, sei es auch nur für einen Abend. Doch das Koffein beschleunigte nur ihren Herzschlag und weitete ihre Pupillen.
Schweigend sahen sie sich wieder an, nippten an ihren Getränken. Sie wusste beide, dass sie sich nun entscheiden mussten, ob dieser Moment eine einmalige Sache bleiben sollte, oder ob sie es erneut versuchen wollten, als Bekannte, Freunde, zwei einvernehmliche Erwachsene. Keine toxische erotische Beziehung die auf einem Machtgefüge basierte.
Aber wie sollte es je funktionieren, wenn sie damals dem Alter nach noch ein Kind gewesen war? Ein Ding der Unmöglichkeit und doch saß sie ihm nun ruhig gegenüber, suchte nach Worten ehe sie sprach: „Danke für den Kaffee, doch ich muss jetzt gehen". Schließlich war sie verabredet.

Sie erhob sich, legte ihren Mantel und Schal um. Er blieb sitzen, betrachtete sie eingehend, genau wie damals, als sie nackt und entblößt vor ihm stand und eine Zigarette rauchte, die Haut vom Mondlicht beschienen, die Haare zerzaust.
„Du solltest nicht rauchen", hatte er gesagt.
„Ich bin doch schon siebzehn", hatte sie lachend erwidert und ihren Kopf in den Nacken gelegt.
„Du bist erst siebzehn. Und genau deswegen solltest du nicht rauchen"
„Und du bist ein erwachsener Mann. Und genau deswegen solltest du nicht mit deiner Schülerin schlafen", konterte sie.
„Ich weiß. Komm zurück ins Bett"
Sie drückte die Zigarette aus und kletterte auf die weiche Matratze und sie liebten sich die ganze Nacht.

Die Erinnerungen waren nicht verblasst, sie waren lebendig, gestochen scharf. Sie blinzelte und die Bilder verschwanden.
„Werden wir uns wiedersehen?", fragte er.
Wie sehr hatte sie auf diese Frage gehofft und doch- insgeheim wünschte sie sich er hätte diese nie gestellt. Wie sollte sie darauf antworten? Ein Ja barg das Risiko einer Wiederholung ihres Untergangs vor acht Jahren. Ein Nein würde ihr Herz wieder direkt brechen. Ganz gleich wie sie sich entscheiden würde, Schmerz ließ sich nicht vermeiden.
„Vielleicht", sagte sie schließlich, ehe sie mit zügigen Schritten das Café verließ. Die Kälte schlug ihr ins Gesicht und sie atmete tief aus, blinzelte und wischte sich die Tränen weg, die ihr die Wangen herunterliefen. Sie war immer noch nicht frei von ihm und war es auch nie gewesen. Acht Jahre. Und nicht einmal ein Kaffee für 3,50€ konnte ihr das zurückgeben, was sie einst verloren hatte.

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