🎄 26. Türchen 🎄

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I promise



Es war kalt, so kalt, dass Yeonwoos Atem in kleinen weiß-grauen Wölkchen zwischen ihren spröden Lippen hervortrat, nur um sich einige Sekunden später in der frostigen Luft des grauen und tristen Nachmittags zu verlieren.
Die Kälte fraß sich wie ein unwillkommener Gast unter die Kleidung der Frau, arbeitete sich vor bis zu ihren Knochen und setzte sich dort fest, machte klar, dass sie für heute Abend den Körper der jungen Frau nicht mehr verlassen würde. Jetzt bereute sie es, sich nicht noch eine Jacke mitgenommen zu haben, obwohl sie doch eigentlich wissen müsste, wie unglaublich kalt der Winter in ihrem ehemaligen Wohnort war.
Der Rucksack war so voll, dass sie Angst hatte, dass er jede Sekunde platzen würde, doch wenn er bis jetzt noch nicht den Geist aufgegeben hatte, dann müsste er auch noch die zwanzig Minuten Fußweg aushalten, zumindest hoffte sie das.
Als sie aus dem kleinen Bahnhofsgebäude trat, das sie schon unzählige Male betreten und wieder verlassen hatte, schluckte sie trocken.
Der kleine Platz, in dessen Mitte eine etwas unproportionierte Statue platziert worden war, ließ Erinnerungen in ihrem schmächtigen Körper aufkommen, Erinnerungen, denen sie sich jedes Mal am selben Tag im Jahr stellte, jedes Mal am Nachmittag des 24. Dezembers.
Es waren schmerzliche und doch so zuckersüße Erinnerungen, dass Yeonwoo sie auf ihrer Zunge zu schmecken glaubte, sie fühlten sich an wie ein warmer Kakao an einem kalten Wintertag, schmeckten im Abgang aber so bitter, wie der einzige Shot, den sie auf Aufforderung ihrer besten Freundin, jemals in ihrem Leben getrunken hatte.
Wie jedes Mal, wenn sie auf diesen Platz trat, konnte sich ihr Gesicht nicht entscheiden, ob es jetzt einen gequälten und zutiefst gebrochenen oder einen zufriedenen und wohlwollenden Gesichtsausdruck aufsetzten sollte.
Wie jedes Mal fühlte sie sich hin- und hergerissen zwischen negativen und positiven Gefühlen, die dieser Platz immer wieder auf's Neue in ihr auslöste.
Hier war sie das erste Mal auf Nancy gestoßen, ungefähr zur selben Zeit wie jetzt. Auf dem Weg nach Hause hatte sich Yeonwoo in dem Bahnhofscafé noch eine große, heiße Schokolade geholt, da sie nach einem anstrengenden Arbeitstag einfach etwas Süßes und Warmes gebraucht hatte, als sie in Nancy hereingerannt war, welche gerade ebenfalls auf dem Weg nach Hause gewesen war.
Yeonwoo hatte vor Schreck ihr Heißgetränk losgelassen, es hatte sich über Nancys Mantel ergossen, den sie sich, wie sie später erfahren hatte, erst neu gekauft hatte.
Am Ende hatte der Abend damit geendet, dass Nancy bei Yeonwoo zu Hause geschlafen hatte, da jene ihr ihren Mantel unbedingt hatte ersetzten wollen und sie erst zu spät gemerkt hatten, dass um elf Uhr keine Bahn mehr fuhr.
Trotz der unangenehmen Umstände war es ein schöner Abend gewesen und die Frau mit der aufgeweckten Persönlichkeit hatte sich als sehr nett und angenehm herausgestellt.
Ein Lächeln schlich sich auf Yeonwoos Lippen, als sie über den Platz lief und kurz darauf in eine kleine Seitenstraße einbog. Damals war es ihr unglaublich peinlich gewesen, dass sie ihre Partnerin so kennenlernend hatte, jetzt lachte sie darüber und immer wenn Nancy diese Geschichte jemand anderem erzählt hatte, hatte sich auf ihre rosigen Lippen ebenfalls jedes Mal ein kleines, amüsiertes Lächeln geschlichen.
Später brachte genau jene erste Begegnung Yeonwoo den Spitznamen "Kakao-Tollpatsch" ein, den Nancy immer so gern verwendet hatte, vielleicht auch gerade deshalb, weil Yeonwoo jedes Mal ihr Gesicht hinter ihren Händen verborgen hatte, um zu verstecken, dass sie rot geworden war.
„Ach, Süße, mein Baby", hatte Nancy dann immer gesagt, sie zu sich auf den Schoß gezogen, ihre Arme um ihren Bauch geschlungen und begonnen, ihr Haar zu küssen, um sich für ihre Worte zu entschuldigen, obwohl Yeonwoo jedes Mal gewusst hatte, dass es ihr eigentlich gar nicht leid tat und sie nur einen Grund suchte, um ihr wieder nah zu sein.
Jene Erinnerung, besonders die an die Küsse und Liebe ihrer Freundin, stach Yeonwoo in die Brust wie ein kalter Dolch und ihre entspannten Schritte wurden wieder ein wenig schneller, wie als könne sie vor den schmerzhaften Bildern in ihrem Kopf davonlaufen.
Sie vermisste Nancy auch noch nach all den Jahren, jeden verdammten Tag fühle sie sich mehr und mehr fehl am Platz, weil es keine liebevolle Braunhaarige gab, die ihr morgens die Haare aus dem Gesicht strich und sie zwang aufzustehen, weil es niemanden mehr gab, der sie nach einem langen Arbeitstag zu Hause erwartete, um zu kuscheln, weil es niemanden mehr gab, mit dem sie sich über belanglose Kleinigkeiten streiten konnte.
Sie bemerkte erst, wo sie war, als ihr der Geruch von warmem Punsch und Glühwein in die Nase stieg und augenblicklich verschwanden die unangenehmen Bilder wieder aus ihrem Kopf und wurden durch Schönere ersetzt. Es waren Bilder, die man mit Bedacht gezeichnet und schließlich koloriert hatte. Es waren wunderschöne, bunte und ästhetische Ölgemälde, für die Yeonwoo immer noch den besten und schönsten Platz in ihrem Kopfmuseum suchte. Es waren Bilder, die sie gemeinsam mit ihrer Freundin gezeichnet und entwickelt hatte, es waren Bilder, die von Liebe und Zuneigung handelten.
Der Weihnachtsmarkt sah immer noch so aus, wie bei Yeonwoos letztem Besuch; sie erkannte sogar einen Verkäufer aus der Zeit wieder, zu der sie mit Nancy regelmäßig hier gewesen war, lief aber nicht zu ihm herüber, um ihn zu grüßen, sondern setzte eiligen Schrittes ihren Weg fort.
Sie umrundete die Buden, kam an dem Glühweinstand vorbei, an dem sie immer mit Nancy gestanden und das kleine Glockenspiel beobachtet hatte, das immer zur vollen Stunde begann zu läuten.
An jedem 24. Dezember hatten sie hier bis 18 Uhr gestanden, geredet und waren schließlich, als der Weihnachtsabend endlich angebrochen war, nach Hause gegangen, um ihre wohlverdiente Zweisamkeit zu genießen.
An einem dieser Abende hatte ihre Freundin ihr ein Versprechen abgerungen, dass die junge Frau bis jetzt noch kein einziges Mal gebrochen hatte.
„Yeonwoo!" Sie hatte nach ihren behandschuhten Händen gegriffen und ihre Augen hatten nach ihren gesucht und sie von dem Moment, als sich ihre Blicke begegnet waren, nicht mehr losgelassen.
„Versprichst du mir was?", hatte sie nun etwas leiser gefragt und Yeonwoo hatte, ohne zu zögern, genickt.
„Ich möchte, dass du jedes Weihnachten nach Hause kommst, zu mir, damit wir niemals diese schöne Zeit des Jahres alleine verbringen müssen." Nancys Freundin hatte kurz die Stirn gerunzelt, da sie im ersten Moment nicht ganz verstanden hatte, was ihre Partnerin von ihr wollte, doch schließlich hatte sie genickt. Der Gedanke, dass Nancy sich selbst als ihr Zuhause sah, erfüllte sie sehr und damit hatte sie so recht gehabt. In den letzten Jahren war die Braunhaarige zu ihrem Zuhause worden, in dem sie es sich gemütlich machen und all ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnte, ohne, dass sie Angst haben musste, kritisch beäugt zu werden, ohne, dass sie ihre Gedanken filtern und ihr Verhalten kontrollieren musste.
„Zu Hause ist da, wo du bist und ich komme an Weihnachten nach Hause, ich verspreche es dir!", hatte sie geantwortet und anschließend ihre Lippen auf die ihrer Freundin gelegt.
Jetzt, während ihre Füße sie immer näher an ihr Ziel trugen, das untypisch für einen Weihnachtsabend war, schien es, als wäre der Kuss erst vor ein paar Minuten geschehen.
Sie konnte immer noch den Geschmack des Glühweins schmecken. Jede einzelne Zutat des Heißgetränks hatte sie spüren können und als sich der herbe Geschmack auf ihrer Zunge ausgebreitet hatte, hatte sie glücklich in den Kuss hineingelächelt.
Sie war so glücklich gewesen, damals; sie war so dankbar gewesen und dennoch hatte sie immer noch keinen Weg gefunden, Nancy zu zeigen, wie sehr sie sie liebte, obwohl sie es seitdem sie sie gekannt hatte, jeden Tag auf's Neue probiert hatte.
Sie konnte nur hoffen, dass ihre Freundin gewusst hatte, wie bereitwillig und gern Yeonwoo sich ihr Herz von ihr hatte stehlen lassen, wie gern sie sich in ihren gemeinsamen Nächten ihren Berührungen hingegeben hatte, wie erfüllt sie dank dieses wunderbaren Menschen gewesen war.
Und auch, wenn ihre Beziehung schon lange nicht mehr so war, wie die beiden sie gern gehabt hätten, so war Yeonwoo immer noch erfüllt und dankbar, so jemanden wie Nancy kennengelernt zu haben.
Jetzt waren es nur noch fünf Minuten bis nach Hause und die junge Frau zog sich ihre Jacke fester um ihren Körper und beschleunigte ihre Schritte merklich; sie wollte endlich nach Hause. Erst als das Eingangstor in Sicht war, wurde sie wieder langsamer und als sie das große Tor passiert hatte, tat sie jeden Schritt sanft und vorsichtig, um die hier ruhenden Seelen nicht aus ihrem wohlverdienten Schlaf zu wecken, den sie an Weihnachten mehr als alles andere verdienten.
Sie musste gar nicht überlegen, wo sie lang musste, ihre Füße trugen sie wie von selbst immer weiter nach Hause, kannten jeden Schritt, jeden Trampelpfad, jede Abkürzung zu Nancy. Sie hätte blind und gehörlos den Weg zu ihrer Freundin finden können, so oft hatte sie diesen Weg schon immer wieder auf's Neue angetreten.
Als sie schließlich an ihrem Ziel angekommen war, seufzte sie und augenblicklich vereinnahmte sie wieder die Trauer und die Wut auf das Schicksal.
Nancys Grabstein glitzerte in der untergehenden Sonne, die Blätter der Bäume raschelten in dem leichten Windstoß, der gerade über das Land fegte und übertönten Yeonwoos leisen Klagelaut. Die junge Frau stand ganz alleine auf dem weiten Feld, mit den unzähligen Ruhestätten und starrte auf die Inschrift des Steines.
„Ich bin zu Hause, Nancy. Wie versprochen."

geschrieben von sunnbird


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