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Obwohl der Winter bereits seine kalten Hände nach dem Wald ausstreckte, konnte ich zwischen den hohen Zedern noch auf Wurzelsuche gehen. Mir fehlte noch ein besonderer Schatz, der meine Sammlung vervollständigen würde. Ein neues Labyrinth an Strängen und Enden, die in einem verschlungenen Tanz miteinander verflochten waren. Jede Wurzel erzählte eine Geschichte, berichtete von Geburt und Tod seiner Pflanze. Es war faszinierend.

Zwischen den Bäumen erklang das Gelächter der anderen Elfen. Es war so hell, so aufdringlich. Kein Vergleich zum ruhigen Gesang der Blätter, der mich ansonsten umgab. Ich folgte dem Lauf eines ausgetrockneten Baches und entfernte mich von den anderen. Wenn ich den Kopf weit genug einzog, würden sie meine braunen Haare zwischen den Zweigen der Büsche nicht erkennen. Ein paar Schritte weiter verfing sich der Stoff meiner Hose an einem Dornenstrauch. Doch direkt daneben stand das Gerippe einer kleinen Birke, die sich nicht gegen die Nachbarn hatte behaupten können. Die Erde, die den Stamm umgab, war mit Laub bedeckt. Ich sank auf die Knie und spürte wie der Stoff meiner Hose nachgab. Vorsichtig legte ich den Boden frei, schob Blätter, Moos und Zweige beiseite. Ohne hinzusehen griff ich nach der Schaufel, die an meiner Seite hing. Bereits der würzige Geruch der Erde sagte mir, dass hier etwas Einzigartiges zu finden war. Es dauerte, bis es mir gelang, die Wurzel freizulegen. Ein kühler Wind kam auf, der das Ende des Tages ankündigte. Aus meinem Rückenbeutel holte ich zwei Borstenpinsel, mit denen ich die Windungen von Erde befreien konnte. Es war wahrlich ein Schmuckstück, dass sich mir hier zeigte. Ein Horn ertönte, dass uns zum Ahnenhain rief. Richtig, Mea hatte mich beim Frühstück daran erinnert, an diesem Tag pünktlich zu sein. Es gab so viele Sachen, die ich vergaß, weil sie mir nicht wichtig genug erschienen. Heute also würde ich die Entwicklungsphase verlassen und in die Reifephase eintreten. Zweifelsfrei ein bedeutendes Ereignis, aber nicht so außergewöhnlich, als dass es mich dazu bringen würden, meinen Schatz zurückzulassen.

Oberhalb des Bachbettes erklangen Schritte. Blätter raschelten, dann schoben sich zwei Füße in mein Sichtfeld.

»Na sieh mal einer an, wen haben wir denn da?«

Ich brauchte nicht hinzusehen, um die Stimme Alon zuzuordnen. Obwohl wir gleich alt waren, hatten wir so gar nichts gemein. »Wenn du dir genug Mühe gibst, wirst du mich schon erkennen«, antwortete ich.

Alon schnaubte und trat näher zu mir heran. »Cassaya. Unter all dem Dreck ist es schwieriger, als es sein sollte.«

Mit beiden Händen umfasste ich den Stamm der toten Birke und zog vorsichtig. »Es gibt nicht so viele Elfen in unserem Alter.« Stück für Stück befreite ich die Wurzeln von der Erde. »Nachdem ich offenbar weiblich bin und dunkle Haare habe, sollte es offensichtlich sein.«

»Du bist schmutzig«, erwiderte er, als ob das etwas schlimmes sei. »Elfen sind nicht schmutzig.«

Ich klatschte in meine Hände, so dass einige der Dreckklumpen abfielen. Warum ging er nicht einfach weiter? Vorsichtig löste ich die Steinsäge meines Meos aus der Schlinge des Rückenbeutels.

Alons Schatten fiel über mich, als er sich weiter vorbeugte. »Was machst du da?«, fragte er.

»Ich säge.«

Sein Lederschuh wippte auf und ab. »Nein, Rindenhirn. Ich will wissen, warum du da sägt.«

Ich glaubte nicht, dass er es wirklich wissen wollte. Auf der anderen Seite würde er nicht gehen, bis ihm der Zeitpunkt selber gefiel.

»Ich trenne den toten Stamm von der Wurzel.«

Die Bewegung seines Fußes wurde schneller. »Du bist wirklich verwachsen, oder? Ich will wissen, warum du das machst.« Den letzten Satz sprach er auffällig langsam, als ob ich seine Worte dann besser verstehen würde.

»Ich kann die Wurzel ohne den Stamm besser tragen?« Die Säge fuhr durch das Holz und mit jedem Schnitt kam ich meinem Ziel näher.

Alon schwieg.

Mit einem letzten Zug trennte ich das tote Holz von meinem Schatz. Ich würde ihn mit einem kleinen Pinsel weiter reinigen, dass allerdings hatte Zeit.

»Und, glaubst du wirklich, dass sich für dich ein Baum öffnen wird?«

Ganz langsam, um keine Windungen abzutrennen, verstaute ich meine Beute in dem Rückenbeutel. Es war nicht mehr viel Platz zwischen all den anderen Wurzeln und meinem Wäschesack, aber es reichte. »Nachdem sich die Bäume unserer Ahnen für alle Jungelfen öffnen, wüsste ich nicht, warum es bei mir anders sein soll.« Erst als ich den Beutel und meine Werkzeuge fixiert hatte, schaute ich auf.

Alons blonde Haare waren mit einem ordentlichen Zopf zusammengebunden. Über seiner Schulter hing ein Sack, aus dem Silberbeerenzweige lugten. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er auf mich herab. So sehr ich mich auch bemühte, ich verstand weder ihn noch die Anderen. Sie legten Wert auf Dinge, die mir einfach nicht wichtig waren. Ordnung, Musik, Leichtigkeit. Es war alles so langweilig.

Kopfschüttelnd trat er Alon einen Schritt zurück. »Auch nach der Mittwinterzeremonie wirst du keine von uns sein.«

Mein Schulterzucken schien ihn zu ärgern. Mit der flachen Hand schlug er gegen einen Ast und eine kleine Kugel schoss in hohem Bogen auf mich zu. Im letzten Moment erkannte ich, dass es ein schwarzer Körper mit wedelnden Beinen war. Eine Spinne, die genauso wie ich Alons Missbilligung erregt hatte.

Noch während ich die Hand ausstreckte, um sie aufzufangen, wandte er sich ab. Ich sah ihm nicht hinterher, sondern schaute das kleine Tier an, dass auf meiner Faust gelandet war.

»Du bist eher eine von denen, als von uns«, erklärte Alon, bevor sich seine Schritte entfernten.

Die Spinne hatte einen fingernagelgroßen Körper und lange Beine. Es schien sich um einen gewöhnlichen Baumspinner zu handeln. »Grüß dich, kleiner Freund.« Weder der Flug noch die Landung schienen das Tier verletzt zu haben. Langsam krabbelte es meinen Arm hinauf. »Wenn du magst, kannst du dich gerne anschließen. Ich werde die Nacht in einem der Ahnenbäume verbringen. Dort ist es schön warm, so sagt man zumindest.« Die Spinne schien mein Angebot zu freuen, denn sie ließ sich auf meiner Schulter nieder. Gemeinsam kletterten wir aus dem Bachbett hinauf.

Das Horn erschallte ein zweites Mal. Ein tiefer Ton, der in meinem Bauch kribbelte. Ich folgte einem Wildwechsel, der mich weiter in den Wald führte. Es war ein besonderer Moment, in dem ich die Grenze zum Ahnenwald überschritt. Waren es zuvor noch normale Bäume gewesen, die meinen Weg gesäumt hatten, umgaben mich nun meine Vorfahren. Dicke Stämme mit abgestorbenen Teilen - hier standen Elfen, die in ihre Greisenphase eingetreten waren. Die restlichen Elysianer mochten in ihnen nur gewöhnliches Holz sehen, doch es war so viel mehr. Dieser Wald bestand aus hunderten von Seelen, die im Inneren des Wirtes schlummerten. Und heute würde mich eine beherbergen.

Elfennacht - Eine Geschichte aus ElysiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt