Kapitel 1

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„Ich bin nicht zu alt zum Arbeiten!"

Roxanne betrachtete Carol so freundlich sie konnte. Sie hatte gar nichts sagen wollen. Sie hatte eigentlich auch gar nichts gesagt. Es war ihr nicht einmal mehr möglich, ihren genauen Wortlaut zu rekonstruieren. Hatte sie nicht einfach nur gefragt, ob Carol die Chefin sei?

„Kindchen, ich habe mein ganzes Leben lang in diesem Nachtclub gearbeitet. Es ist mir gar nicht möglich, nicht hier zu arbeiten. Es ist mir schnurzpiepegal, ob ich 81 Jahre alt bin."

Carol Frazier stand vor Roxanne und sah keineswegs wie 81 aus. Vielleicht wie 70, aber was hatte Carol schon an Erfahrung, was das Schätzen so hoher Altersklassen anging!

„Ich finde das wirklich beeindruckend, dass Sie weiterhin jeden Abend hier sind, Mrs Frazier. Das muss sehr anstrengend sein."

„Kindchen, wenn du bei uns anfangen willst, solltest du dir eine Sache sofort abgewöhnen: Mrs Frazier! Ich bin Carol – für dich und für alle anderen." Die ältere Dame rümpfte pikiert die Nase.

Roxanne hatte sofort das Gefühl, einen schweren Einstand zu haben.

Carol sah an Roxanne herunter und sofort fühlte sich Roxanne wie Haifischfutter. Sie war einer dieser kleinen Schwarmfische, die nur in eine Richtung auf bestimmte Weise glänzten. Nur, dass sie keinen Schwarm um sich herum hatte. Sie würde eben immer auffallen. Sie war in Schockstarre gefallen.

Carol legte ihre faltigen Hände ans Kinn und schien zu grübeln. „Hast du schon mal gekellnert?"

Roxanne schüttelte wortlos den Kopf.

„Okay, also du kannst heute bei uns zur Probe arbeiten und am Ende der Schicht reden wir nochmal."

Roxanne nickte. So hatten sie es bei der ersten Besprechung vereinbart, als sie ihre Bewerbungsunterlagen vorbeigebracht hatte. Wenigstens schien Carol ihr Wort zu halten.

„Den Dresscode hast du ja schon mal eingehalten. Gut."

Roxanne trug eine weiße Bluse und eine schwarze Hose. Lieber noch wäre ihr eine schwarze Bluse gewesen. Davon hatte sie wenigstens mehrere im Schrank. Es war ihre bevorzugte Farbe, um sich zu verstecken. Hier im Schummerlicht des Nachtclubs wäre es die perfekte Farbe gewesen, um den Blicken der Leute zu entgehen. Roxanne zupfte am Saum ihrer Bluse. Sie hatte auch schon einmal besser gepasst. Um genau zu sein spannte sie unter den Armen und unter der Brust. Hoffentlich würde sie diesen Abend herumkriegen. Mittlerweile war ihr sogar vollkommen egal, ob sie diesen Job bekommen würde. Die Chefin war jedenfalls nicht unbedingt der Anreiz, diese Kellnertätigkeit als ihren neuen Traumjob zu deklarieren.

„Also, Kindchen, du nimmst die Bestellungen auf. Du bist immer höflich und entgegenkommend. Ausnahmen bestätigen die Regel. Unverschämte Gäste musst du natürlich nicht über dich ergehen lassen. Das Frazier's besteht seit den Goldenen Zwanzigern. Wir haben die Prohibition überstanden, wir haben die Weltwirtschaftskrise überstanden, den zweiten Weltkrieg, den kalten Krieg und diesen komischen neumodischen Kram mit der Digitalisierung und den Smartphones lassen wir auch über uns ergehen. Du kannst dir also vorstellen, was der Ruf dieser Bar mir bedeutet! Und Kellnerinnen finde ich wie Sand am Meer. Zur Not mach ich's lieber selbst! Verstanden?"

Roxanne schluckte hart. Sie fühlte wie ihre Achseln während dieser langen Ansprache feucht wurden.

„Und eine Sache kann ich dir versprechen. Ich bin zwar 81 Jahre alt, aber ich werde nicht nach Hause gehen und mich da auf meinem Sofa langweilen und ein Nickerchen unter der Häkeldecke machen. Dafür fließt das Blut einer ganzen Generation an Nachtclubbesitzern durch meine Adern. Versuch mal, nach 60 Jahren deinen Schlafrhythmus umzustellen! Das ist quasi unmöglich."

„Das ist wirklich beeindruckend", brabbelte Roxanne anerkennend.

„Und eines verspreche ich dir, Kindchen", nahm Carol den Faden wieder auf, diesmal noch lauter, „Wenn ich irgendwann nicht mehr arbeiten sollte, werde ich in einer Holzkiste hier raus getragen."

Roxanne zupfte an dem Kragen ihrer Bluse. Er kratzte ungewohnt am Hals. Das war nicht zu vergleichen mit der Kratzbürste, die vor ihr stand.

Das dürfte eine lange Nacht werden.

With your heart so brightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt