Rückblende

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2 Monate zuvor

Es fühlte sich so schrecklich irreal an.
Vermutlich war es eine Art Selbstschutz meines Körpers, damit ich nicht sofort den Verstand verliere. Ich realisierte also gar nicht, was ich da gerade sah. Mein Körper war wie eingefroren, mein Kopf so gut wie leer.
Und bevor ich irgendwie im Stande war mich zu bewegen, habe ich deshalb zunächst die Augen geschlossen und langsam von Zehn bis Null runtergezählt. Ungefähr drei Mal hatte ich dies versucht und immer wieder wenn ich die Augen wieder öffnete, hoffte ich in meinem Bett aufzuwachen. Ich hoffte, dass dies ein schrecklicher Albtraum war, den ich den vielen Horrorfilmen zuzuschreiben hatte.

Doch ich hatte nicht geträumt. Er lag wirklich dort. Reglos, bleich wie eine Wand, umgeben von Wasser, das sich langsam immer mehr mit seinem Blut vermischte. Und je mehr ich es realisierte, desto mehr breitete sich die Leere ausgehend von meinem Kopf über meinen ganzen Körper aus. 

Ich wusste nicht, wie lange ich da so stand. Jegliches Zeitgefühl hatte ich verloren. Vielleicht stand ich Jahre da, vielleicht einige Stunden, vielleicht waren es aber auch nur einige Sekunden bis mich schließlich ein lauter, greller Schrei aus meiner Trance erwachen ließ. Es dauerte eine Weile bis mir klar wurde, dass ich derjenige war, der schrie. 

Endlich wieder bewegungsfähig stürzte ich dann sofort zur Badewanne und zog die leblose Person heraus. 
Er war schwer. Seine Klamotten hatten sich nämlich inzwischen mit der Mischung aus Wasser und seinem Blut vollgesogen. Ich berührte sein bleiches Gesicht. Und eiskalt war er. Ich kniete mich auf den Boden und bettete seinen Kopf in meinen Schoß. Seine Lippen waren genauso blau, wie seine Augen gewesen waren. Jetzt jedoch waren sie geschlossen. Und den Gedanken, dass sie es für immer bleiben würden, schob ich immer wieder aus meinem Kopf. Er durfte nicht tot sein, er durfte einfach nicht.

„Taddl …“, wimmerte ich immer wieder, zog ihn ganz in meine Arme und begann leicht hin und her zu schaukeln. „Taddl …“
Ich fing an mit meiner zittrigen Hand hektisch durch seine nassen Haare zu fahren, bis ich bemerkte, dass ich dabei Blut auf seinem Kopf verteilte. Geschockt hielt ich in der Bewegung inne und blickte unter Tränen meine Hände an. 
Blut. An meinen Händen. Mir wurde schwindelig. Da klebte das Blut meines besten Freundes an meinen Händen. Und ich stellte mir selbst eine Frage, die ich eigentlich schon beantworten konnte. Wo kam das Blut her?

Mein Blick war verschleiert von den Tränen und doch konnte ich die klaffende Wunde an seinem Handgelenk erkennen. Seine Pulsadern. Durchgeschnitten. 

Und da flossen die Tränen wie von selbst über mein Gesicht. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Brust und begann hemmungslos zu weinen, so stark, dass ich mich fast übergeben hätte.

Ich sollte Hilfe holen. Sollte die Wunde verbinden. Irgendetwas. Doch ich konnte nicht. Ich saß da, mit leerem Kopf, ohne Emotionen, ohne Gedanken, ohne alles. Nur den Schmerz konnte ich jetzt spüren. Der unerträgliche Schmerz, der sich langsam in mir breit machte und alles andere in den Hintergrund schob. Ein letztes Mal wimmerte ich noch seinen Namen, bis ich von einer starken Hand weggezogen wurde. Die Person zog mich raus aus der Wohnung und drückte mich gegen eine Wand. Immer wieder wurde ich von ihr geschüttelt. 

„Ardy! Ardy, rede doch mit mir! Sag was!“, flehte dieser Mensch. Ich hörte ihn zwar, konnte jedoch nichts aufnehmen und verstand nicht, was er von mir wollte. Irgendwann nahm die Person mein Gesicht in die Hände und zwang mich damit, ihn anzusehen.

Simon. Es war Simon, der mich mit großen, besorgten Augen ansah. 

Und diese Augen waren auch das Letzte woran ich mich erinnern konnte, bis ich schließlich zusammenbrach. 

It is only with the heart that one can see rightlyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt