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Melody wusste nicht mehr, wie sie den Thronsaal verlassen hatte und auch nicht, wie sie den Weg zurück zu ihren Freunden gefunden hatte, die vor dem gigantischem Gebäude warteten. Vielleicht hatte die Wehashe ihr den Weg gezeigt, vielleicht hatte sie ihn selbst gefunden. Ihre Gedanken rauschten wie die Wellen der stürmischen See in ihrem Kopf und bereiteten der Sechzehnjährigen leichte Kopfschmerzen, die in kleinen Abständen pochend hinter ihrer Stirn lauerten. Koral schwamm auf sie zu und fing sie ein paar Meter vor dem Rest der Truppe ab, schien etwas zu sagen, denn ihr Mund bewegte sich, doch Melody blendete es aus, ob bewusst oder unbewusst, sie konnte es nicht sagen. Erst, als ihre Freundin sie leicht am Arm berührte, realisierte Melody ihre Umgebung und riss sich aus dem Strom ihrer lauten Gedanken.
''...warst du auf einmal weg und die Wehashe meinte, du würdest nachkommen, aber wir warten hier bestimmt schon zehn Minuten und haben uns Sorgen gemacht. Ist alles in Ordnung, Mel? Was hat Neptun von dir gewollt?'' Sie ähnelte schon fast Arelè, die wie ein geölter Blitz ohne Punkt oder Komma reden konnte, dachte Melody stumm und erinnerte sich daran, zu antworten. Ihr Kopf formte Wörter, Sätze, die sie sagen sollte und Erklärungen, die sie ihrer Freundin schuldig war, doch das einzige, was ihr gelang, war ein simples 'Gut'. ''Was?'', fragte Koral sichtlich verwirrt und zog ihre Stirn in Falten. Melody sah ihr in die ungewöhnlich dunkelblauen Augen und wiederholte ihre Antwort. ''Gut. Mir geht es gut.'' Koral nickte erleichtert und fragte etwas ruhiger: ''Warum hat Neptun dich allein zu sich beordert? Was wollte er?'' Einem Instinkt folgend zuckte Melody mit den Schultern und löste den Blick von den Zügen ihrer Gefährtin. Im selben Moment wollte sie sich am liebsten verprügeln, denn warum sollte sie ihren Freunden nicht erzählen, was der König der Weltmeere mit ihr besprochen hatte? Melody vertraute jedem einzelnen mit ihrem Leben und wäre sie an deren Stelle, wäre sie sicherlich auch neugierig gewesen. Aber irgendetwas hielt sie zurück. Es war wie eine Blockade in ihrem Kopf, die Worte lagen ihr auf der Zunge, aber keines verließ ihre Lippen. Sie fixierte einen Punkt hinter der Asiatin, ohne es wirklich zu wollen. Die Nixe verfluchte sich selbst dafür, schimpfte sich in ihrem Kopf.
''Verdammt!'' Der Ausruf erschreckte die Sechzehnjährige fast mehr als Koral, die überrascht zurückzuckte und ihr durchdringenden Adleraugen für einen kurzen Moment von Melody abwandte, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Diese war so damit beschäftigt gewesen, Melody zu mustern, dass sie alles andere ausgeblendet hatte, um jede noch so kleine Geste oder Gesichtsregung zu erfassen. Der Ausruf ihres Gegenüber hatte sie komplett aus dem Konzept gebracht und alle Sinne waren mit einem Mal wieder wachsam und nicht nur in 'Stand-by', nicht mehr selbstständig und mussten wieder von Koral kontrolliert werden. Sie hatte intuitiv einen kleinen Satz nach hinten gemacht und musste sich selbst kurz sammeln, um sich vollkommen auf Melody konzentrieren zu können.
Diese paar Sekunden reichten Melody aus, um die wirren Gedankenstränge so weit zu ordnen, dass sie wieder klar denken konnte - für den Moment. Was Neptun mit ihr besprochen hatte, war kein Geheimnis, schließlich hatte er ihr keinen Vertrag für eine Schweigepflicht unter die Nase gelegt. Sie bezweifelte allerdings, dass der König über ganz Macambria etwas derartiges nötig hätte. Sein Wort genügte und jeder Mensch, egal ob Landgänger oder Macambrianer, senkte den Kopf. Natürlich nur, wenn die betroffenen Personen in dem Moment auch wussten, wen sie vor sich hatten.
Also. Keine Schweigepflicht oder Gelübde oder sonst etwas. Was in Gottes Namen hielt sie davon ab, ihren Freunden das Gespräch anzuvertrauen? Als Melody aus dem Auenwinkel eine Bewegung wahrnahm, kehrte sie aus ihren Grübeleien zurück.
''Woah, was war das denn?'' Koral hatte sich wieder vor ihr aufgebaut und taxierte sie mit demselben Ausdruck in ihren Augen wie zuvor. Melody schwieg und hasste sich dafür. Anstatt ehrlich zu sein, verschwieg sie ihren Freunden einfach die wichtigen Details, ganz toll. Das war zwar nicht wie Lügen, aber wirklich besser war es auch nicht. Am liebsten würde sie aufschreien und es Koral erklären, aber ihr Mund blieb verschlossen. Sie schenkte Koral ein unechtes Lächeln, von dem sie hoffte, dass es nicht so falsch aussah wie es sich anfühlte. Korals Miene nach zu urteilen, tat es leider genau das, denn als sie das nächste Mal ihren Mund öffnete, fragte sie sichtlich besorgt und mit ernster Miene: ''Bist du sicher, dass es dir gut geht? Die letzten Wochen waren ziemlich hart, für jeden von uns. Wir können darüber reden, wenn du willst...'' Sie ließ den Satz unbeendet und selbst wenn sie gewollt hätte, konnte Melody nicht darauf antworten, da in diesem Moment Arelè zu ihnen stieß und ihnen erleichtert mitteilte, dass sie aufbrechen würden. Von der sonst so fröhlichen Miene war nichts mehr übrig, stattdessen sah Melody Angst und Besorgnis in den Augen ihrer rothaarigen Freundin. Melody wurde bewusst, dass das Zwillingsmädchen unglaublich angespannt sein musste. Arelè hatte keine Ahnung, wie es ihrem Bruder ging und als Melody diesen Gedanken erfasste, brachen auch die Sorgen um Nyx über sie herein. Bevor ihre Gedanken sie jedoch in den reißenden Strudel aus negativen Emotionen hinabziehen konnte, nickte sie der wartenden Arelè zu, warf Koral einen Blick zu und wusste, dass das Gespräch mit ihr, mochte es noch so kurz gewesen sein, noch nicht zu Ende war.
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Weltenwandler - Wechsel der Gezeiten
Fantasy»Sie war allein. Niemand war bei ihr. Nur eine Kette lag versteckt zwischen den Fingerchen, viel zu groß für die kleine, zarte Hand, als wäre sie fehl am Platz und doch, als gehöre das Schmuckstück genau dort hinein. Die Kette war aus purem Gold, d...