- 24.12. -
- Lola -
Das Glassplittern und anschließende Klirren der Scherben, die sich springend über dem Parkettboden verteilen, lässt mich auf dem Stuhl herumfahren und ich sehe, wie Elodies Hand, welche zuvor noch wohl ihr Weinglas umfasst hat, mehrfach und unkontrolliert zittert und Elodie selbst immer wieder die Augen fest zusammenkneift, so als würde sich etwas darin befinden.
Was…was ist denn jetzt los?
„Maman!“
Mit einem schrillen Quietschen schrammt Maries Stuhl über den Boden, als sie diesen hastig zurückschiebt und ans Ende des Tisches zu ihrer Mutter stolpert, dicht gefolgt von Bodo, der sich vor Elodies Rollstuhl hockt und ihre nicht zitternde Hand ergreift, welche auf ihrem Schoß liegt.
„Was ist los, mon ange?! Was hast du?!“
„Nichts, chéri“, erwidert Elodie und lächelt Bodo beschwichtigend an, während sie mit ihrer zitternden Hand über ihre immer noch blinzelnden Augen fährt, „mir…mir ist nur das Glas aus der Hand gerutscht. Kein Grund zur Aufregung.“
„Dass ich nicht lache“, entgegnet Marie und hebt spöttisch eine Augenbraue, bevor sie nach der zitternden Hand ihrer Mutter greift und diese betrachtet, „du zitterst wieder. Und wenn ich mich nicht irre, ist deine Sicht auch wieder verschwommen und deine Beine schmerzen mehr als sonst, stimmt’s?“
Zu meiner Verwunderung weicht Elodie dem strengen Blick ihrer Tochter aus und streicht sich stattdessen mit ihrer nicht zitternden Hand so beherrscht wie möglich eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Je vais bien, Marie“, sagt sie ruhig und schließt die Augen, so als müsste sie sich sehr konzentrieren, während Marie verächtlich aufschnaubt und etwas auf Französisch erwidert, was ich jedoch nicht verstehe.
Während die beiden weiter miteinander auf Französisch diskutieren, sehe ich, wie Amélie und Thibault erst verunsicherte Blicke austauschen und dann zu Constantin sehen.
„Sind…sind wir daran Schuld, dass es Oma schlecht geht, Papa?“, fragt Amélie und ich streiche ihr beruhigend über die Schultern, als ich sehe, wie ihre Unterlippe gefährlich zu zittern begonnen hat.
„Weil…weil wir vorhin so viel mit ihr gesprochen haben“, ergänzt Thibault und lässt schuldbewusst den Kopf hängen, „war das vielleicht zu anstrengend für sie?“
„Mais non!“ Entschlossen schüttelt Constantin den Kopf und streicht Thibault durch die hellbraunen Haare, während er zwischen den Zwillingen hin und her schaut. „Ihr beide könnt nichts dafür! Pas du tout! Eure Oma ist…ähm…“
Hilfesuchend hält er kurz inne und schaut dann zu mir, woraufhin ich mich leicht räuspere, um die Aufmerksamkeit der beiden zu gewinnen.
„Eure Oma ist sicher nur ein bisschen erschöpft. Der Abend war ja ganz schön aufregend und es ist ja auch schon sehr spät.“
„Oui, ganz genau“, sagt Constantin und wirft mir einen dankbaren Blick zu, während er zustimmend nickt und von seinem Stuhl aufsteht, „am besten macht ihr beiden euch jetzt
bettfertig, es ist schließlich schon sehr spät und ihr wollt doch, dass Papa Noël euch eure Geschenke bringen kann, n’est-ce pas?“
„Ja…schon…“, murmelt Thibault, schaut aber immer wieder zu Marie, die weiterhin mit ihrer Mutter auf Französisch diskutiert, „aber Oma…“
„Mach dir keine Sorgen, Thibault“, sage ich und schenke ihm ein beruhigendes Lächeln, während ich seiner Schwester weiter sanft über die Schultern streiche, „eure Mutter und euer Opa werden sich schon um eure Oma kümmern. Und ihr helft den beiden am besten dabei, indem ihr jetzt mit eurem Vater mitgeht und euch fürs Bett fertig macht.“
„Ehrlich?“, fragt Amélie, die mich mit einem zweifelnden Ausdruck ansieht, woraufhin ich ihr zuversichtlich zunicke und übers Haar streiche.
„Ja, ehrlich.“
Auch wenn die Zwillinge immer noch nicht wirklich überzeugt aussehen, tauschen sie einen weiteren kurzen Blick aus und stehen dann vom Tisch auf, um zusammen mit Constantin das Esszimmer zu verlassen, der mich beim Hinausgehen noch erleichtert anlächelt, bevor er mit den beiden durch die geöffnete Tür verschwindet.
Ich erwidere sein Lächeln und lehne mich anschließend mit einem leichten Seufzen im Stuhl zurück.
Die Zwillinge müssen wirklich nicht mitbekommen, dass es Elodie nicht so gut geht.
Ob das so ein Schub ist, von dem Zoe mir im Frühling erzählt hat?
Zoe…
Sofort drehe ich mich auf meinem Stuhl zu ihr um, doch mein Herz sinkt ein wenig, als ich sehe, wie Pierre bereits neben Zoe getreten ist und ihr einen Arm um die Schultern gelegt hat, während er sie mitfühlend von der Seite ansieht und ihr irgendetwas auf Französisch zuflüstert.
Ernsthaft?!
Nicht mal jetzt kann sich dieser schmierige Halbfranzose zurückhalten?!
Ich schnaube vor Wut und hätte diesen Freizeit-Casanova am liebsten mit dem Käsemesser erstochen, als ich Zoes Blick bemerke.
Sie scheint Pierre gar nicht zu wahrzunehmen, weder seine Berührung an ihrer Schulter noch seine geflüsterten Worte.
Stattdessen sind ihre braunen Augen geweitet und ihr Gesicht von einer Mischung aus Schock und Sorge durchgezogen, während ihr ganzer Körper sich verkrampft hat und sie wie erstarrt ist.
Kaum zu glauben, dass sie mich vor einigen Minuten noch so liebevoll angelächelt und mir diese wunderschöne Liebeserklärung gemacht hat…worauf auch immer sie damit hinauswollte…
„Mon ange, bitte“, höre ich in diesem Moment Bodo sagen und drehe meinen Kopf wieder zu den dreien, nur um zu sehen, dass Marie inzwischen trotzig die Arme vor der Brust verschränkt hat und tief Luft holt, während Bodo immer noch vor Elodies Rollstuhl kniet und inzwischen ihre beiden Hände umfasst hat, „sei doch vernünftig, ma belle. Du musst zum Arzt, am besten zu einem Neurologen.“
„An Weihnachten?“, Elodie sieht Bodo nicht an, während sie kurz und trocken auflacht, „bonne chance, chéri.“
„Schon mal was von Krankenhaus gehört?“, entgegnet Marie trotzig und verdreht die Augen, woraufhin Elodie heftig den Kopf schüttelt.
„Mon dieu, wie oft muss ich es denn noch sagen? Ich möchte nicht zum Arzt“, erwidert sie und schaut zu meiner Überraschung in unsere Richtung, wobei ihr Blick mit einem Mal etwas sanfter wird, „nicht heute…und vor allen Dingen nicht jetzt, wo ich es ohnehin schon genug kaputt gemacht habe…“
Hä?
Verwirrt runzle ich die Stirn und durchforste meine Gedanken nach einem möglichen Zusammenhang.
Redet Elodie jetzt von dem Weinglas oder was?
So etwas kann man doch ohne Probleme ersetzen, das ist doch wirklich nicht tragisch…
„Das Einzige, was du hier gerade kaputt machst, ist deine Gesundheit, Maman“, seufzt Marie und tritt hinter Elodies Rollstuhl, um nach den dortigen Griffen zu greifen, „dein Neurologe hat gesagt, dass du im Fall eines neuen Schubs so schnell wie möglich zu ihm kommen sollst, damit er dir zur Behandlung und Linderung etwas Kortison verabreichen kann. Und da sie im Krankenhaus dieses Zeug ja wohl auch vorrätig haben werden und sich dort vermutlich auch ein paar andere Neurologen herumtreiben werden, fahren wir da jetzt hin. Zumal die Ärzte dort auch sicherlich feststellen können, ob es wirklich ein Schub ist.“
„Das sehe ich genauso“, brummt Bodo zustimmend und steht wieder auf, nur um anschließend seiner Frau mit zwei großen Fingern sanft über die Wange zu streichen, „ich weiß, dass du Ärzte nicht magst, mon ange, erst recht seit den Ereignissen im Frühling. Aber es ist zu deinem Besten, ma belle. Das weißt du doch, oder?“
Elodie lässt mit einem schweren Seufzer ihren Kopf ein wenig hängen und nickt langsam.
„Oui, je sais…“, murmelt sie und schaut noch einmal zu uns, als Marie ihren Rollstuhl vom Tisch wegzieht und zur geöffneten Zimmertür schiebt, „je suis désolée, ma petite.“
Ma petite?
So nennt sie doch Zoe…
Aber warum entschuldigt sie sich denn bei ihr?
Während Elodie mit Marie und Bodo aus dem Esszimmer verschwindet, drehe ich mich erneut zu Zoe um, die immer noch wie erstarrt an derselben Stelle wie zuvor steht.
Sie blinzelt nicht einmal, so als wäre sie wie in einer Art Trance versunken, und schaut ungerührt zur geöffneten Tür, durch welche ihre Mutter zusammen mit Marie und ihrem Vater den Raum verlassen hat.
„Zoe?“, frage ich und stehe von meinem Stuhl auf, während Pierre mich kopfschüttelnd betrachtet.
„Gib dir keine Mühe. Ich glaube, sie steht unter Schock…“
„Lassen Sie das mal meine Sorge sein“, knurre ich und funkle Pierre wütend aus schmalen Augen an, nur um einen Augenblick später Zoes Hände zu ergreifen und ihre Finger zwischen meine zu schieben.
„Zoe?“, frage ich erneut und streiche mit meinen beiden Daumen über ihre Handrücken, „komm schon, Zoe. Rede mit mir. Schau mich an.“
Der Blick aus Zoes braunen Augen ist noch ein wenig benebelt und weit weg, so als wäre sie ganz woanders, und ich warte geduldig, bis Zoe schließlich mehrfach blinzelt und zu mir sieht.
„Lola?“, fragt sie etwas befremdlich und blinzelt erneut mehrmals, was mich erleichtert aufatmen und lächeln lässt.
„Alles in Ordnung, Zoe?“, fragt Pierre und verstärkt seinen Griff um Zoes Schultern, wodurch er sie leicht aufmunternd schüttelt, „du hast mir aber einen ganz schönen Schrecken
eingejagt.“
Doch anstatt auf Pierre zu achten, ist Zoes Blick weiterhin auf mich fokussiert und ich ziehe ihre beiden Hände zu mir, um jeweils einen Kuss darauf zu platzieren.
„Du solltest mit deinen Eltern und Marie ins Krankenhaus fahren, Zoe“, sage ich ruhig und lasse ihre Hände nach dem Kuss wieder sinken.
„A-Aber das…“, stammelt Zoe und schüttelt den Kopf, während sie sich unentschlossen umsieht, „das geht doch nicht…i-ich meine, es…es ist doch Weihnachten und ich habe doch
extra alles vorbereitet, um…“
„Ja, und ihr habt das auch alles wunderbar gemacht mit dem Weihnachtsessen und allem drum und dran“, unterbreche ich sie und nicke, „aber jetzt ist es wichtig, dass du bei deinen Eltern und Marie bist. Constantin, Pierre und ich kümmern uns um Amélie und Thibault, das Aufräumen und was sonst noch so ansteht.“
„Aber…“
„Kein aber“, entschlossen schüttle ich den Kopf und schaut Zoe weiter fest in die Augen, „du fährst jetzt mit den anderen ins Krankenhaus und ihr bleibt dort, bis deine Mutter versorgt ist. Also los, geh schon.“
Ich löse meine Hände von Zoes Händen und stemme sie stattdessen in die Hüften, während ich eine auffordernde Kopfbewegung hinter mich zur Tür mache.
Für einen Augenblick hält Zoe noch inne und schaut abwechselnd zwischen mir und der Tür hin und her, bevor sie tief durchatmet und sich zu mir vorlehnt, um mich sanft zu küssen.
„Merci beaucoup, chérie“, flüstert sie, als sie ihre Lippen wieder von meinen gelöst hat und mich liebevoll anlächelt, „bis später.“
Mit diesen Worten und einem weiteren Kuss auf meine Wange, windet Zoe sich aus Pierres Griff, schiebt sich an mir vorbei und eilt aus dem Esszimmer.- Zoe -
Eiskalter Wind peitscht in mein Gesicht, als ich die Haustür aufreiße und sie nur einen Moment später wieder mit einem Scheppern hinter mir zuwerfe.
Zum Glück hat es aufgehört zu schneien, auch wenn der noch großzügig umherliegende Schnee und meine High Heels in diesem Leben wahrscheinlich keine Freunde mehr werden.
Fröstelnd stolpere ich durch den Vorgarten und ziehe mir parallel meine Winterjacke an, die ich hastig im Vorbeigehen von der Garderobe gezerrt und dabei noch zwei weitere Jacken und einen Schal zu Boden gerissen habe.
Doch das ist jetzt egal.
Ich muss mich jetzt auf meine Mutter konzentrieren, so wie Lola gesagt hat.
Lola…
Ich seufze leise und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu, während ich, so schnell es mir
meine High Heels im Schnee gestatten, weitereile und spüre, wie die kleine Box in meiner Blazertasche gegen meinen Körper drückt.
Jetzt bin ich noch nicht einmal dazu gekommen, sie zu fragen…
Das Aufheulen eines Motors lässt mich aufhorchen und dank der Autolichter in der Dunkelheit erkenne ich schnell, dass meine Eltern und Marie sich für Maries Auto entschieden haben.
Während Marie schon am Steuer sitzt und ungeduldig mit ihren Fingern auf das Lenkrad trommelt, verstaut mein Vater überraschend geschickt den zusammenklapparen Rollstuhl in
dem eigentlich viel zu kleinen Kofferraum und schmeißt dessen Tür mit einem lauten Knall zu, bevor er sich zu meiner Mutter auf die Rückbank quetscht.
Eilig beschleunige ich meine Schritte noch etwas mehr und reiße schließlich die Tür auf der Beifahrerseite des anfahrenden Autos auf, nur um mich einen Moment später auf dessen Sitz fallen zu lassen.
„Schön, dass du uns auch mich deiner Anwesenheit beehrst, Zouzou“, sagt Marie und wirft mir einen genervten Seitenblick zu, „hast du die idyllische Route einmal ums Haus genommen oder wo bist du so lange geblieben?“
„Kein Streit, Mädchen“, brummt mein Vater von der Rückbank und ich sehe im Rückspiegel, dass er einen Arm um die Schultern meiner Mutter gelegt hat, die ihre zitternde Hand fest mit
ihrer anderen Hand umschlossen hat und immer noch vor sich hin blinzelt.
„Vielleicht“, sagt sie und räuspert sich kurz, „vielleicht habe ich mich auch wirklich nur etwas überanstrengt und morgen geht es mir schon viel besser, wenn ich mich ein bisschen ausgeruht habe.“
„Das glaube ich erst, wenn es mir ein Arzt bestätigt hat“, erwidert Marie knurrend ohne ihren Blick von der Straße abzuwenden, „ein Vorteil an dem wertgeschätzten Fest der Liebe ist definitiv, dass niemand mehr unterwegs ist.“
Ich drehe mich unterdessen auf meinem Sitz zur Rückbank um und schenke meiner Mutter ein beruhigendes Lächeln, als ich ihr sanft ein Knie tätschele.
„Mach dir keine Sorgen, Maman. Es wird alles gut.“
„Ach, ma petite“, seufzt meine Mutter und lässt ihre zitternde Hand los, um meine Hand auf ihrem Knie zu ergreifen, „je suis désolée…très désolée. Ich wollte euch nicht so erschrecken oder euch das Weihnachtsfest verderben.“
„So ein Unsinn!“, entgegne ich und schüttle energisch den Kopf, „du hast überhaupt nichts verdorben, Maman!“
„Und was ist mit deinem Antrag, ma petite?“, fragt meine Mutter und ich kann nicht verhindern, dass ich ertappt zusammenzucke, „das hattest du doch vorgehabt, n’est-ce pas?“
Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass sich die Stille im Auto noch ein wenig intensiviert hat und außer dem dröhnenden Motorengeräusch nichts zu hören ist, bis ich schließlich tief durchatme.
„Das ist egal, Maman. Wir kümmern uns jetzt erst mal um dich."
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Weihnachten Auf Französisch (Lola & Zoe - Band 2) (girlxgirl; christmas)
Romansa- Fortsetzung zu "Liebe Auf Französisch" - Weihnachten. Das Fest der Liebe und der Familie. Und damit der perfekte Zeitpunkt, um endlich die Familie der Partnerin kennenzulernen. Das denken auch Lola und Zoe, die das Weihnachtsfest zusammen mit...