„Hallihallo!", grüßte Roxanne Carol erfreut, als sie das Frazier's betrat.
„Hallo", grummelte die alte Dame mit schlechter Laune. „Du kommst ganz schön knapp."
Roxanne blieb vor Carol stehen, sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr und sagte: „Ich glaube, ich bin gut in der Zeit. Ich kann mich noch zwei Mal umziehen und drei Mal die Tische abwischen, bevor es losging." Das stimmte nicht ganz, denn im Gegensatz zu Grace hatte sie keine Wechselsachen zum Dienst dabei, sondern trug direkt ihre selbst zusammengestellte Uniform. Es störte sie zwar, wenn die am Ende des Abends verschwitzt war und sie durch die kalte Winterluft nach Hause gehen musste, aber zu groß waren die Hemmungen, sich im Pausenraum im Frazier's umzuziehen. Es rief Erinnerungen aus der Schulzeit wach: die Umkleidekabine der Sporthalle. Daran wollte sie lieber ihr ganzes Leben nicht mehr denken.
„Dann wisch aber auch wirklich die Tische. Das will ich sehen!", reagierte Carol prompt.
Roxanne konnte ihre Launen mittlerweile einordnen und gab nicht allzu viel auf diesen Arbeitsauftrag. Sie hatte in den letzten Tagen sehr viel Lob von ihr geerntet und hatte ein gutes Gefühl bei dem, was sie tat. Sogar Carols Prophezeiung hatte sich bewahrheitet. Sie hatte im Vergleich zur Vorwoche tatsächlich ein Kilo abgenommen. Das gab ihr Aufwind. Das und die Tatsache, dass sie heute Grace wiedersehen würde.
Grace entwickelte sich zu einer ausgewachsenen Schwärmerei. Es war irrsinnig. Immer wieder schwirrten einzelne Gesprächsfetzen in Roxannes Kopf umher. Dass Grace gesagt hatte, dass sie Hochachtung vor Roxannes Job hatte. Wenn sie daran dachte und an Graces Augen, fühlte sie sich, als sei alles möglich. Als gäbe es ein Universum, in dem Grace und sie ein Paar sein konnten. Dann aber dachte sie wieder an Äußerungen wie die, dass Grace die Abende gern mit jemandem unter der Decke gekuschelt verbringen würde statt immer wieder dieselben Lieder zu trällern.
Roxanne war im Pausenraum angekommen. Das rote Kleid hing noch nicht am Kleiderbügel. Also ging sie kurzerhand wieder in den Gastraum und begann tatsächlich, ihre Tische noch einmal zu wischen. Carol sollte aufpassen, was sie sich wünschte. Sie würde am Ende ihre Bar nicht mehr wiedererkennen, wenn Roxanne sich ihre Wünsche zu Herzen nahm.
„Silent Night. Holy Night..." Die weltberühmten Verse klangen glasklar durch die Bar. Roxanne hatte diese Passage des Auftritts mittlerweile mehrfach erlebt, aber diesmal gelang es ihr zum ersten Mal, sich selbst soweit zu lösen, dass sie nicht mehr in Schockstarre Grace bewunderte. Sie schaffte es, ihren Blick zur Abwechslung durch den Gastraum schweifen zu lassen. Sie konnte nicht sagen, ob es die bisherigen Male auch geschehen war, aber sie war sich sicher, dass Gespräche andächtig verstummten. Die Bar wurde selbst zu einem Ort der stillen Nacht. Die Lichterkette des Weihnachtsbaums schien heller zu funkeln als während der anderen Songs.
Als das Lied sich dem Ende näherte, setzte Roxanne sich wieder in Bewegung und nahm Bestellungen auf. Grace erntete Applaus und bedankte sich ins Mikrofon. Üblicherweise kam ihre Show an dieser Stelle zum Ende. Diesmal schien sie aber noch mehr Elan auszustrahlen als sonst.
„Ladies and gentlemen, es ist Zeit für Sie, Ihr hart verdientes Weihnachtsgeld auszugeben und zu investieren, und zwar in Momente. Genießen Sie diesen Moment im Frazier's und halten Sie ihn für immer in Ihrer Erinnerung fest! Denken Sie daran, man ist nur einmal jung. Unser Barmann Jason hat noch Kapazitäten und mischt Ihnen gern seine beliebtesten Cocktails. Unsere bezaubernde Roxanne wird Ihnen die Getränke Ihres Herzens dann vorbeibringen, oder Roxy?" An dieser Stelle pausierte Grace und schaute herausfordernd zu Roxanne.
Was sollte sie jetzt tun? Roxanne hasste Aufmerksamkeit. Sie hasse es im Rampenlicht zu stehen. Sofort spürte sie, wie ihre Schweißporen die Arbeit noch mehr aufnahmen als sie es ohnehin schon taten. Aber sie wusste, sie konnte diese Steilvorlage nicht einfach verpuffen lassen. Also nahm sie ihr leeres Tablett, präsentierte es und streckte ihren Arm in einer geraden Linie aus, sodass sie einen eleganten Halbkreis vor ihrem Körper damit zeichnete. Zumindest versuchte sie möglichst elegant auszusehen. Abschließend grinste sie euphorisch und zeigte dem Publikum ihren Daumen nach oben wie eine Politikerin, die sich Wählerstimmen erhoffte.
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With your heart so bright
RomanceRoxanne hat einen neuen Job. Bisher fiel es ihr schwer, überhaupt etwas zu finden, aber Carol, die Chefin der traditionsreichen Kneipe Frazier's gibt ihr eine Chance. Und dann ist da auch noch Grace, die mit ihrem kirschroten Kleid so einige Köpfe v...