Jaqueline

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Als es ihr zu bunt wurde, hatte sie Linus Breiding auf dem Schulhof in einen Stein verwandelt. Erst auf massiven Druck der Schulleitung und der gesamten Elternschaft erlöste sie ihn nach 2 Tagen von diesem Fluch. Vorher sah man sie in den Pausen in aller Seelenruhe auf dem Stein sitzen und ihr Brot essen.

Selbstverständlich hatte die ganze Schule Angst vor ihr. Ich nicht. Im Gegenteil. Sie faszinierte mich vom ersten Tag an und immer wieder versuchte ich, in ihre Nähe zu kommen. Ich bemerkte anfangs gar nicht, dass ich mir selbst im Wege stand. Ihre Türen waren offen, ich hätte sie nie einrennen müssen.

Sie war der einsamste Mensch.

Es war sehr dunkel, vermutlich durch das viele Schwarz an den Wänden. Zudem waren viele Gegenstände schwarz oder zumindest schwarz bemalt. In der Luft schwebten Lichter und es wurde einem „eigenartig" wenn man das Zimmer betrat. Natürlich waren die großen, schweren Vorhänge ebenfalls schwarz. Hinter diesen Vorhängen, aus den Fenstern ihres schwarzen Zimmers, konnte man eine erstarrte Welt erblicken. Ein ganz normales Straßenbild, nur eben erstarrt. Autos standen fest auf den Fahrspuren, Menschen standen mitten in einer Gehbewegung unbeweglich auf der Stelle. Nach einiger Zeit erkannte man, dass die Welt draußen nicht erstarrt war. Sie war nur unendlich langsam. Hier am Fenster musste man schon eine sehr lange Zeit sitzen, um vielleicht von einem Menschen draußen wahrgenommen werden zu können? Ich schob den Vorhang wieder zu.

Sie servierte mir ein Getränk in einer großen Tasse. Das Gefäß war der einzige Gegenstand im Raum, der nach oben „fiel". Entsprechend war die Öffnung der Tasse unten gerichtet, sowie auch der Spiegel der Flüssigkeit. Ich brauchte lange, bis es mir gelang daraus zu trinken.

Das Bemerkenswerte an ihr waren ihre Augen, in denen ich nur zu gerne versunken wäre. Das Bemerkenswerteste an ihr war ihre Schönheit, die wirklich makellos war. Das Bemerkenswerteste an ihr war ihre Stimme, die voll und warm, und zugleich jugendlich frisch wirkte. Das Bemerkenswerteste ... Ich warf von unten einen Blick in die halb volle Tasse. Das Bemerkenswerteste an ihr waren ihre hochhackigen Schuhe an ihren perfekten Füßen. Und erst ihre Beine, die waren wirklich das Bemerkenswerteste an ihr. Die Tasse fiel zur Decke und zerschellte dort, die Lichter flackerten kurz.

Sie beugte sich über mich und küsste mich, mit ihren vollen, wunderbaren Lippen. Ich zitterte. Ihre schlanken Arme umfingen meine Schultern, ich sah ihre Zungenspitze, die sie lachend ein wenig herausgestreckt hatte. Ihr Blick kam etwas von unten herauf, da sie den Kopf gesenkt hielt. Sie musterte mich genau.

Ich lag auf dem Bett und sie auf mir, nackt, ekstatisch. Die Lichter umtanzten uns. Mir wurde leicht, sehr leicht und ein Gefühl schwoll an in meiner Brust.

Ja, ich liebte sie. Ich liebte sie so sehr, wie ich nichts und niemanden zuvor geliebt hatte. Ich hatte zuvor nie geliebt. Ich wusste gar nicht, was das ist, Liebe? Aber jetzt, ja jetzt wusste ich es nur zu genau. Ich hätte alles, wirklich alles für sie getan. Sie hätte es nur sagen müssen. Nur ein Wort.

„Wirst du alles für mich tun, alles, was ich möchte?" flüsterte sie. Es gab gar kein Zögern. „Ja, Jacqueline, ich tue alles für dich, alles, was du willst, alles .." Sie legte einen Finger auf meinen Mund „Ich weiß, pssst, sei still" Sie umfing meinen Kopf mit ihren Beinen, klemmte meinen Hals ein und hielt mich unter ihrer Decke gefangen. Immer fester schlossen sich ihre Beine um meinen Hals und mir war, als würde ich mich auflösen, mich verwandeln. So verging die Nacht.

Der Chemiesaal hatte sich in eine Eishölle verwandelt. Und zwar sprichwörtlich. Alles war von scharfen, großen Kristallen übersät. Inmitten einer großen Skulptur aus Eis konnte man das in Terror verzerrte Gesicht und die Gestalt der Chemie-Lehrerin erkennen. In ihren Händen hielt sie noch immer die Resultate der letzten Chemie-Arbeit. Sie wird die Noten verkündet haben, könnte man glauben. Vielleicht ist sie bei „A" wie „Arnoldsen, Claire" gestartet, aber nie bei „Z" wie „Ziemer, Roger" angekommen? Hatte sie noch das schlechte Resultat von „Wizard, Jacqueline" verlesen, die gar nicht anwesend war? Mit Heizstrahlern, warmem Wasser und Gasbrennern versuchte man den Block zu schmelzen, aber jede Hilfe kam zu spät.

Ich selbst hatte das getan, ich, denn es war mir aufgetragen worden. Ich hatte geschworen, zu gehorchen. Sie hatte mich dazu befähigt, ich war ihr Instrument, ihr Ding, ihr Nichts. - So wie andere auch. Viele andere. Unerkannt. Gefügig und bereit die gemeinsten und niedrigsten Dienste zu verrichten, für sie, nur für SIE!

-ENDE-

JaquelineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt