Kapitel Eins

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Der Unfall

Familie ist die stärkste Form der Liebe. Für Eylül Öztürk war das die stärkste Form. Deshalb fiel es ihr schwer, Emphatie aufzubauen, während sie die Krankenakte ihrer ersten Patientin überflog. „Mach eine Pause, Liebling.", hörte sie ihre Mutter. Als sie sich umdrehte sah Eylül ihre Mutter mit einer Tasse Tee auf sie zu kommen. Sie lächelte ihrer Mutter dankend zu und nahm die Tasse aus ihrer Hand. „Danke.", sagte sie daraufhin. „Ich dachte wir bringen keine Arbeit nach Hause?"

Die junge, frische Psychologin atmete tief durch und zuckte mit den Schultern. Sie war nur einmal so nervös, und zwar als sie vor einem Halben Jahr im Vorstellungsgespräch saß. „Morgen habe ich die erste Sitzung mit meiner ersten Patientin. Ich muss gestehen, es ist ein schwieriger Fall für mich. Ich versuche mich vorzubereiten."

Als ihre Mutter, einen Kuss auf ihre Schläfe drückte wurde es warm um sie herum. Ihre Mutter ist schon immer ihr Vorbild gewesen. „Trink deinen Tee und geh schlafen, morgen wird ein anstrengender Tag.", zwinkerte ihr ihre Mutter zu. Sie nickte lediglich und schickte ihr einen Luftkuss zu.

Am nächsten Morgen

„September, beeil dich!", rief ihr Bruder während sie in ihrem Zimmer ihre Tasche packte. Je öfter jemand nach ihr rief, desto hektischer wurde sie und lief letzten Endes hin und her um sich daran zu erinnern was sie vergessen hatte. Daraufhin kam die Aufregung, dass ihr Bruder sie September genannt hatte, also Eylül auf Deutsch. Augenrollend packte sie nur noch ihren Notizblock, welcher ein Geschenk ihres Vaters war, in ihre Tasche und rannte die Treppen herunter.

„Ich bin soweit.", sagte sie außer Atem und nahm ihrer Mutter ihre Thermosflasche und ihr Frühstück aus der Hand. Sie schickte ihren Eltern einen Luftkuss zu und lächelte bevor sie aus dem Haus ging. „Gutes gelingen!", sagten beide aus einem Mund und beobachteten wie das Nesthäkchen in den Wagen ihres älteren Bruders einstieg.

„Na endlich!", seufzte Tolga ihr Bruder und startete den Motor und fuhr los. „Tut mir leid, ich habe verschlafen." Eylül biss von ihrem Toast ab und beobachtete den Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Sie war sehr aufgeregt und doch sehr glücklich. Ihr Traum erfüllte sich. „Wann soll ich dich heute abholen?", fragte ihr Bruder. Sie antwortete ohne zu warten. „Gar nicht. Harun und ich werden zu Abend essen."

Sofort hatten sich Tolgas Blicke versteift. „Komm nicht so spät." Lachend umfasste Eylül die Hand ihres Bruders. „Kein Mensch kann deinen Platz ersetzen, Bruderherz. Nicht einmal mein zukünftiger Ehemann." Tolga konnte Harun nicht besonders austehen, weil er ihm nicht vertraute.

Als das Auto vor dem Krankenhaus zum stillstehen kam umarmte Eylül Tolga ein letztes mal und stieg aus. Nervös, aber dennoch selbstsicher stolzierte sie in das von außen als auch von innen moderne und luxuriöse Gebäude herein und wartete auf den Fahrstuhl um in die Führungsabteilung zu kommen und ihrem Vorgesetzten vor die Augen zu treten.

„Ach, guten Morgen Frau Öztürk. Sie sind früh dran.", sagte die Assistentin ihres Vorgesetzten. Früh? Dabei war sie spät dran. Eylül lächelte. „Herr Kaplan und ich hatten einen Termin? Ich sollte ihn heute kennenlernen." Die Assistentin nickte sah auf ihr Notizbuch und dann noch einmal zu Eylül. „Das verschiebt sich leider. Herr Kaplan bat mich einen neuen Termin zu vereinbaren." Die junge Frau war verwirrt, nickte dennoch.

Nachdem Sie einen neuen Termin ausmachte wurde ihr Büro eingeweiht und wartete sehnsüchtig auf ihre erste Patientin. Es klopfte an der Tür zu ihrem Büro und mit einem einfachen „Herein...", bat sie ihre Patientin herein. Ein enormer Druck lastete auf ihr, denn dies war keine gewöhnliche Patientin. Es war Bahar Kaplan, Familienmitglied ihres Vorgesetzten. Doch anstatt einer Frau trat ein Mann, vielleicht so alt wie ihr Großvater, ein. „Guten Morgen.", sagte der Mann und reichte ihr die Hand. Eylül nahm seine Hand freundlich entgegen und lächelte ihm zu.

Secim SeninWo Geschichten leben. Entdecke jetzt