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Ich fror. Es war eine bescheuerte Idee gewesen, in den Wald zu gehen. Doch auf der Straße wäre es noch kälter gewesen. Nur hatte ich, als ich die Entscheidung getroffen hatte hier hineinzugehen,  definitiv nicht miteinkalkuliert, dass der Forst groß war. Und das man sich in der Dunkelheit in einem Wald sehr einfach verirren konnte.

Es war mehr eine Impulsentscheidung gewesen, hierher zu kommen. Ich hatte gedacht, dass ich unter den Bäumen vor etwaigem Regen geschützt war. Doch der Himmel, soweit ich ihn durch die Baumkronen hindurch erkennen konnte, war sternenklar, daher war es auch im Wald eiskalt.
Ich hatte gute Lust, meinem Vergangenheits-Ich kräftig eine reinzuhauen.

Warum ich in dieser bescheuerten Lage bin, fragt ihr euch?

Tja, daran ist die Bibel schuld. Und meine Mutter. Aber hauptsächlich ist es meiner Dummheit zu verdanken. 

Wie konnte ich so unvorsichtig gewesen sein und in meinem Zimmer mit Chris herumzuknutschen? Na ja, wir hatten uns gehen lassen. Normalerweise wagten wir es nicht mal, uns in der Öffentlichkeit - dazu zählten auch unsere Häuser - auch nur zu berühren. Meistens gingen wir aus der Stadt hinaus, rauf auf die Felder, wo uns niemand sehen konnte.

In Russland war es nicht einfach, mit einer Person des gleichen Geschlechts zusammenzusein. Und erst recht nicht, wenn die Mutter streng katholisch ist.

Auf jeden Fall kam es, wie es kommen musste, meine Mutter machte die Tür auf - ohne zu klopfen, wohlgemerkt - und ließ erst einmal den Teller mit frisch gebackenen Keksen fallen, die sie uns bringen wollte.

Schade eigentlich, die Kekse hätte man noch essen können.

Geh doch zu deinem Freund! 

Das denkt ihr euch jetzt vermutlich.

Der steckt jetzt bestimmt schon in irgendeiner stockreligiösen Therapie oder so. Seine Eltern waren nicht ganz so homophob wie meine Mutter, also werden sie ihn hoffentlich nicht hinauswerfen, aber auf jeden Fall versuchen, ihn ,,umzukehren" oder so.

Dabei ist keiner von uns wirklich schwul. Ich bin pan-und er bisexuell, doch das hat meine Mutter reichlich wenig interessiert, als sie mich rausgeworfen und Chris' Eltern angerufen hat.

Deine Mutter? Und was ist mit deinem Vater? Zu dem kannst du doch gehen, oder?

Wenn ich eine Möglichkeit hätte, in die Schweiz zu kommen, würde ich das sofort tun. Ich wusste nämlich, dass er nichts gegen die LGBTQ+-Community hatte, seitdem er mir mal ein Selfie von sich auf einer Pride-Parade in Genf geschickt hatte. Ich war mir sogar relativ sicher, dass er selbst mindestens bi war.

Doch meine Eltern hatten sich getrennt, als ich acht Jahre alt war, und ein Jahr danach wanderte mein Vater in die Schweiz aus. Wahrscheinlich frisst er da gerade irgendwelchen seltsamen Löcherkäse, während ich hier in diesem verdammten Wald herumirre.

Hast du sonst noch irgendwelche Familienmitglieder?

Würde ich sonst in diesem Wald herumirren und mit imaginären Zuschauern reden? Die Antwort ist nein.

Ich stöhnte und mein Magen grummelte hörbar. Warum hatte ich nicht noch einen Scheißapfel oder so mitgenommen, bevor meine Mutter mich hinausgejagt hatte?

Nun hatte ich den Salat.

Na ja, im wörtlichen Sinn hatte ich keinen. Ich war zwar noch nicht so weit ausgehungert, dass ich mich über einen Salat gefreut hätte, aber das würde sicher noch kommen.

Ich schlug mich weiter durchs Gebüsch und ärgerte mich über mich selbst. Wieso war ich nicht wenigstens auf dem Weg geblieben? dxvc

Na gut, immer optimistisch bleiben! Wenn du immer in eine Richtung gehst, wirst du schon irgendwann aus diesem Wald herauskommen!, versuchte ich, mich in Gedanken zu animieren. Nur war das deutlich schwieriger als gedacht, immer öfter musste ich dichten Gebüschen und Hütten ausweichen und irrte so in Schlangenlinien durch den Wald. Ich sah auf meine Uhr. Chris hatte immer Witze darüber gemacht, dass ich ja praktisch mit meiner Uhr verwachsen war, doch jetzt kam mir das zugute: ich hatte mich zwar in einem dunklen, kalten Wald ohne Geld und Essen verirrt, aber hey, immerhin wusste ich, wie viel Uhr es ist!
Ich hätte natürlich auch auf meinem Handy nachsehen können, aber ich wollte den Akku schonen.

Es war zehn Uhr am Abend. Vor genau sechs Stunden war Chris zu mir gekommen, und vor genau viereinhalb Stunden war meine Mutter in  ein Zimmer gekommen und hatte uns erwischt. Tja, und den Rest der Geschichte kennt ihr. So langsam wurde ich auch müde. Doch ich hatte keine besonders große Lust, hier auf dem feuchten Waldboden zu schlafen, und genauso wenig Lust hatte ich, morgens hier mit zwei dutzend Ameisen und Käfern auf dem Körper und mit Dreck in den Haaren aufzuwachen. Allgemein hatte ich keine Lust, am Morgen hier aufzuwachen. Ich hatte Leute, die freiwillig in der Wildnis campen, nie verstehen können, ich hasste Krabbeltiere und Dreck. Als Kind war ich immer unheimlich froh gewesen, wenn wir, statt zu Campen, in ein Ferienhaus gefahren waren. 

Aus meiner Sicht war Camping nichts einfach anderes, als ein Freifahrtschein für Käfer, sich in deinen Haaren einzunisten. Schon bei dem Gedanken daran schüttelte es mich.

Eine halbe Stunde später war ich endgültig frustriert. Hatte dieser verdammte Wald denn überhaupt kein Ende? Missgelaunt trat ich gegen einen Baum, sprang  gleich darauf jaulend zurück und hielt meinen Fuß.

,,Scheiße!", brüllte ich in den Wald hinein. 

Ich war einfach wütend. Auf meine Mutter, auf die Kirche, auf meinen Vater, auf alle homophoben Arschlöcher aus Russland, und auch auf mich.

Es hatte zwar eine Weile gedauert, doch jetzt realisierte ich endgültig, was hier passiert war: meine Mutter hatte mich rausgeworfen. Ich konnte nicht zurück nach Hause. Vermutlich nie mehr. Und was ich jetzt tun sollte, war mir schleierhaft. Ich konnte versuchen, in irgendeine Art von Kinderheim zu kommen, doch in meinem kleinen Kaff gab es so etwas nicht. Ich könnte natürlich versuchen, in die nächste Großstadt zu kommen, aber ich hatte Angst, dass sie wissen wollten, warum ich kein Zuhause mehr hatte. Meinen Vater konnte ich auch nicht anrufen, mein Handy befand sich zwar in meiner Tasche, jedoch antwortete er seit ungefähr einem Jahr nicht mehr auf meine Nachrichten und wenn ich versuchte, ihn anzurufen, wurde mir von einer freundlichen Frauenstimme erklärt, dass diese Nummer nicht existiere. Vermutlich hatte er seine Nummer gewechselt und es nicht für nötig gehalten, mich darüber zu informieren.

Nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte,  schien mir in-die-nächste-Stadt-fahren-und-ein-Waisenhaus-suchen doch als die beste Möglichkeit. Ja, vielleicht würden sie mich fragen, warum ich dort war, aber dann würde ich einfach behaupten, ich wüsste es nicht mehr. Oder so. Ich war kein besonders guter Lügner, aber versuchen konnte ich es ja mal.

Dazu musste ich aber erst einmal aus diesen Wald hinauskommen. Mein Handy war nutzlos, hier gab es keinen Empfang und ich wollte mir meinen Akku so lange wie es nur ging aufsparen.

Ich ging weiter. Nach einer weiteren Viertelstunde gab mein Handy einen leisen Piepton von sich. Erschrocken nahm ich es in die Hand, ich dachte schon, der Akku wäre jetzt schon leer, doch im Gegenteil-er hatte noch 90%.

Der Grund für den Piepton war ein anderer:ich konnte es kaum glauben, aber ich hatte hier einen Balken Netz. Und Chris hatte mir geschrieben und mehrmals versucht, mich anzurufen. Aufgeregt klickte ich auf die Nachricht.

Seb? Wo bist du? Geht es dir gut?

Ich meine, natürlich geht es dir nicht gut. Sorry, das war dumm von mir.

Aber wo bist du?

Sebastian?

Ich hab Angst um dich...

Die letzte Nachricht hatte er vor 10 Minuten abgeschickt. Sofort tippte ich eine Antwort.

Mir geht's ganz okay, ich hatte die grandiose Idee, in den Wald zu laufen, und jetzt finde ich nicht mehr raus...aber mach' dir keine Sorgen, ich schaffe das schon! Die wichtigere Frage ist eher, wie geht es dir? Wie haben es deine Eltern aufgenommen?

Ich schaffte es gerade noch, die Nachricht abzusenden, dann erlosch der eine Balken Netz auch schon wieder. Fluchend versuchte ich durch das Halten meines Smartphones in verschiedene Himmelsrichtungen, das Netz wiederherzustellen, doch es war wie weggezaubert.

Ich versuchte es trotzdem noch weiter und hampelte am Boden herum. Als ich auf einen Baum kletterte, ließ mich jedoch eine Sache innehalten.

Für einen Moment sah ich einen blonden Haarschopf zwischen den Bäumen aufblitzen.

Das Licht im WaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt