schneesturm

74 12 53
                                    

Die Tür knallte ins Schloss, nachdem er sie zugeschlagen hatte. Es war kalt. Der Schnee am Boden wehte aus Furcht vor der Wärme des Hauses hinfort. Die Wärme, die der junge Mann längst nicht mehr spürte.

Fluchend zog er sich seine Kapuze über den Kopf; sein Mantel war dunkel, und die Schneeflocken, die vom Himmel auf ihn hinabfielen, sahen fast aus wie kleine Sterne im Nachthimmel. Der Junge schaute auf, doch die Sterne waren nicht zu sehen. Nur der Mond spiegelte sich sanft im Schaufenster des kleinen Cafés gegenüber.

Wie spät es wohl war? Er hatte nicht auf die Uhrzeit geachtet, als er aus dem Haus gestürzt war. Sein Handy war gebrauchsunfähig und eine Uhr besaß er nicht. Hätte er den Mut aufbringen können, jemanden nach der Zeit zu fragen, so hätte er sie vielleicht herausfinden können, doch nicht einmal diese Möglichkeit bot sich ihm; die Straße war leer. Niemand war zu sehen.

Fluchend steckte er seine Hände in die Taschen seines Mantels und beschloss, den Weg zu seiner rechten zu nehmen. Er wusste nicht, wohin er führte. Er wusste gar nichts. Sein Kopf war wie leergefegt, als wäre all sein Wissen und all seine Vernunft wie es der Schnee am Ende des Winters tat, geschmolzen. Alles in ihm schmolz, trotz der eisigen Kälte seines Vaters, und hinterließ Spuren von Salz auf seinen geröteten Wangen.
Er ließ es geschehen.

Er hatte nie ein gutes Verhältnis zu seinem Vater gehabt. Stiefvater. Er war das lästige Unkraut, was die Rose, seine Mutter, mit sich gebracht hatte. Ihn wollte niemand. Doch man wurde ihn nicht los. Und seine Mutter, die selbst in ihm etwas Lebendes, Gedeihendes sah, war nicht stark genug, um gegen ihren Ehemann anzukommen. Sie war schwach und zerbrechlich. Eine Rose eben.

Und doch hatte er immer sein Bestes gegeben. Er hatte es so sehr versucht, so schön wie die anderen Blumen zu blühen, hatte zumindest eine Kornblume sein wollen. Er hatte sich so sehr bemüht. Und nun war es diese einzige Arbeit, für die er nicht hatte lernen können, die seinen Vater zur Weißglut gebracht hatte. Seine Tränen kühlten die Wange, auf die dessen Hand geprallt war.

Es war die einzige Arbeit gewesen, die er vernachlässigt hatte. Ihretwegen. Sie war der einzige Mensch, der das Unkraut stehen gelassen und die Rosen umgepflanzt hätte, damit er mehr Licht bekommen hätte. Dabei brauchte er dieses in ihrer Anwesenheit gar nicht. Sie war sein Licht. Und als sie Licht gebraucht hatte, hatte er sie lieber in seinen Armen gehalten, als an diese dumme Arbeit zu denken. Und trotz seiner schmerzenden Wange und seinen zitternden Händen und wackligen Knien hätte er es immer wieder so getan.

Er erreichte eine kleine Kreuzung; auf der anderen Seite der Straßenseite erstreckte sich der Stadtpark. Als Kind war er oft dort gewesen. Er ignorierte das rote Licht der Ampeln und das einsame Hupen eines einzelnen Fiats. Er musste lächeln, als er endlich den vertrauten Kies unter seinen Füßen knirschen hörte.

Durch diesen Kies konnten sich keine Blumen kämpfen. Hier war es natürlich, Unkraut zu sein.

Fast hätte man Schicksal dazu sagen können, dass zeitgleich sein Licht draußen war, den gleichen Weg einschlug wie er und ähnlich einsam war. Wieso, wusste wohl niemand. Doch als er seine Augen öffnete - er hatte sie geschlossen, um sich ganz auf das Knirschen des Kieses und das Fallen des Schnees konzentrieren zu können - sah er sie vor sich, keine zwanzig Meter von entfernt.

Ihr dunkles Haar fiel ihr über die Schultern, und in ihrer weißen Steppjacke sah sie aus wie ein Engel. Die Dunkelheit umhüllte sie, konnte sie jedoch nicht vollkommen einnehmen. Langsam ging er auf sie zu, bis er ihr direkt in die Augen sehen konnte. Kleine Eiskristalle hatten sich in ihren Wimpern verfangen und ihre Lippen waren kalt, eisig. Sie war wunderschön.

Ihre zarten Finger strichen über seine Wangen, und der Junge begann erneut, zu weinen. Sie war so gut. Er hatte sie nicht verdient.

Sie legte seine Arme um ihn und drückte ihn an sich. Als wolle sie mit ihm verschmelzen, all sein Leid wollte sie auf sich nehmen. Sie wollte ihn erlösen. Er hatte das nicht verdient.

Als sie ihm wieder in die Augen schaute, waren sie stürmisch. Ein Schneesturm in seinen Augen. Sie wirkten frostig, doch das war er nicht mehr. Er blickte sie an, und da war etwas anderes als Einsamkeit, Kälte und Trauer.

Er schaute sie an, und sie war sein Licht. Seine Wärme.

Sie war das Feuer, was ihn am Leben hielt.

19. Jan 2021

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 03, 2021 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Limetten zum Frühstück ; short storiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt