Das sechste Unglück

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Müde tappte ich ins Bad. Es war 4 Uhr nachts. Ich und meine beiden besten
Freundinnen hatten einen Harry Potter Marathon gemacht. Ja, wir haben alle 8
Filme am Stück geschaut! Gedämpft hörte ich Ina und Annas Stimmen aus
meinem Zimmer: «Es ist wirklich schade, dass Professor Snape eigentlich lieb
war und jetzt gestorben ist!» Ich hatte jetzt wirklich keine Lust zum
Zähneputzen, also leerte ich mir einfach etwas Mundspülung in den Mund. Ich
gurgelte und spuckte es wieder aus. Dann zog ich mir mein Pyjama an und ging
in mein Zimmer. Ina und Anna lagen bereits auf den Matratzen, die ich für sie
bereitgelegt hatte. Ich schmiss mich mit bereits halb geschlossenen Augen auf
mein Bett. Das einzige was ich noch hörte, war wie Anna fragte, wer Lust hätte
Wahrheit oder Pflicht zu spielen. Dann schlummerte ich ein.


Als ich wieder aufwachte, sah ich Inas Gesicht über mir. Sie sah mich mit ihren
tiefblauen Augen verzweifelt an. «Gut, du bist endlich wach», sagte sie,
während ihre Gesichtszüge langsam entspannten, «in 15 Minuten beginnt die
Schule! Das war wirklich eine sehr bescheuerte Idee bis 4 Uhr nachts Harry
Potter zu schauen!» Ich gähnte laut und drehte mich wiederwillig zur Seite, ich
war noch überhaupt nicht bereit zum Aufstehen… Vier Hände packten mich
und ich wurde brutal aus meinem warmen Bett gezogen. Meine beiden
Freundinnen schüttelten und rüttelten mich, bis ich hellwach war. Missmutig
zog ich mich an. Nach einem schnellen Frühstück nahm ich meine Zahnbürste
zur Hand. Gerade als ich etwas Zahnpasta darauf drücken wollte, sah durch das
Badezimmer Fenster einen grellen Blitz aufleuchten und gleich darauf ertönte
ein furchterregender Donner. «Oh nein!», entfuhr es mir. Jedes Mal, wenn es
ein Gewitter gibt, passieren mir nämlich exakt sechs Unglücke! Und das
Sechste ist immer das Schlimmste. Das Gewitter wurde immer stärker. Es hatte
bereits ein heftiger Regenschauer angesetzt und der Wind peitschte laut gegen
das kleine Fenster. Mit all meiner Kraft drückte ich es zu. Ich musste jetzt
wirklich zur Schule! Als ich versuchte etwas Zahnpasta aus der Tube zu
drücken, fiel mir auf, dass sie leer war! «Erstes Unglück!», schrie ich. Meine
beiden Freundinnen kamen zu mir gestürmt. «Was ist los?», rief Anna. Man
konnte sie fast nicht verstehen, weil das Prasseln des Regens sie übertönte.
«Später!», rief ich und eilte in die Küche, mir hinterher Ina und Anna. Mit
Hundeaugen bettelte ich meine Mutter an uns mit dem Auto zu fahren. Zum
Glück willigte sie schnell ein. Sie schnappte sich die Autoschlüssel und wir
sprangen zu viert ins Auto. Zu meiner Rechten sass Ina und zu meiner Linken Anna. Während meine Mutter aus der Garage brauste, fing ich an, den Beiden
zu erzählen, dass mich noch fünf Unglücke erwarteten. Da die Beiden meine
besten Freundinnen waren, wussten sie bereits, was bei einem Gewitter mit
mir passierte. Sie versprachen mir ehrlich, mich so gut es ging zu beschützen.
Gerade als ich von der leeren Zahnpasta Tube zu erzählen begann, trat meine
Mutter abrupt auf die Bremse! «Was ist denn los?», fragte Ina mit sehr
besorgter Miene. «Es gibt Stau», sagte Mama knapp. Ich öffnete meine SRFNachrichtenApp auf meinem Handy. Gerade war eine neue Meldung
hereingekommen. Es gab Stau auf der A3, Richtung Solothurn! Genau auf
dieser Autobahn waren wir! Ich scrollte herunter und Ina las vor: «Stau auf der
A3, Richtung Solothurn!» «Jaja und weiter?», fragte ich nervös, «was ist die
Ursache?» «Ein Baum ist wegen des Sturmes Sabine, auf die Autobahn
gefallen! Die Strassenarbeiter sind dabei ihn zu räumen.», sagte Ina. «Das wäre
mein zweites Unglück!», murmelte ich besorgt.
Als wir endlich in der Schule ankamen, hatte bereits die zweite Stunde
begonnen. Da fiel es uns allen gleichzeitig ein: Heute sollten wir die jährliche
Biologieprüfung zurückbekommen! Besorgt und mit wackeligen Beinen
tappten wir zu Dritt in den Biologiesaal. Auf dem Weg zu meinem Pult
stolperte ich über meine eigenen Füsse, so nervös war ich! Diese Prüfung war
die wichtigste des ganzen Schuljahres! Als die Lehrerin begann die Prüfungen
auszuteilen, fiel ich fast vom Stuhl! Die Biologieprüfung wurde auf meinen
Schreibtisch geknallt und ich sah den enttäuschten Gesichtsausdruck meiner
Lehrerin. Oh nein, oh nein, oh nein…
Ich drehte den Test um und da stand meine Note, rot umkreist und daneben
einen unglücklichen Smiley. Kein Wunder, denn ich bekam eine 2.5. Oh Gott,
dachte ich, das war jetzt bestimmt mein drittes Unglück! Nach einer endlos
langen Stunde klingelte endlich die Schulglocke. Ich stürmte aus der Klasse.
Jetzt hatten wir Englisch, mein Lieblingsfach! Ruckartig öffnete ich meinen
Rucksack, um mein Handy heraus zu holen. Ich musste meiner Mutter nämlich
noch schreiben, wann sie mich abholen sollte. Aber wo war es denn? Ich
durchsuchte jedes Fach zweimal, fand es jedoch immer noch nicht! Ich leerte
den Rucksack aus, kein Handy! Alles was herausfiel, waren nur lauter
Schulbücher, mein Mittagsessen und ein kleiner zusammengefalteter Zettel.
Ich öffnete ihn. Darauf stand mit krakeliger Schrift:

Unglück Nr. 4

Wie unheimlich…
Jetzt waren es nur noch zwei Unglücke, die mich erwarteten. Ich geriet in
Panik. Was konnten das nur für Unglücke sein? Es war noch nicht einmal ein halber Tag vergangen und es waren bereits vier Unglücke geschehen! Gerade
als ich Anna, die neben mir sass, von meinem Handy erzählen wollte, erschien
die Englischlehrerin in der Tür. Ich hatte mir noch nie so sehr gewünscht, dass
sie nicht da wäre, sie war ja schliesslich meine Lieblingslehrerin. Schnellen
Schrittes kam Mrs. Newton ins Klassenzimmer geschritten. Es wurde totenstill.
Man hörte nur noch das klackende Geräusch, das ihre Stöckelschuhe bei jedem
ihrer Schritte machten. Jeder hatte grossen Respekt vor ihr. Sie sah mich, ihre
Lieblingsschülerin mit dem gleichen enttäuschten Blick, wie die
Biologielehrerin an. «Ich habe von Ihrer Note in Biologie gehört, Mrs. Denver»,
sagte sie mit starkem englischem Akzent, «sehr bedauerlich, wirklich sehr
bedauerlich!» Ich wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken,
stattdessen, sah ich einfach peinlich berührt zu Boden.
Die Englischstunde dauerte eine Ewigkeit. Obendrein war ich auch noch
hundemüde. Ich versuchte so gut es ging zuzuhören, doch gegen Ende der
Lektion nickte ich schliesslich ein. Ich träumte von einem Jahrmarkt. Dort ging
ich durch die Reihe von Buden. Irgendwie zog es mich zu einem Schiessstand.
Auf einem grossen Neonschild, wo üblicherweise Preise pro Wurf standen,
stand nun in grossen Lettern:

Fünftes Unglück

Ich wachte erst wieder auf, als Mrs. Newton mir hart auf die Schulter klopfte.
«Was ist die Steigerungsform von ‘noisy’?», fragte sie in einem schroffen
Tonfall, «Was ist heute nur los mit Ihnen?» «Ähmmm… also», verdattert sah
ich sie an. «Sie haben im Unterricht geschlafen Mrs. Denver, das kann so nicht
weitergehen! Sie werden am Samstag zur Strafstunde kommen und werden
nächsten Freitag ein Referat über Steigerungen von Adjektiven halten! Auf
Englisch!»
Die Stunde ging zu Ende, während ich erschöpft auf meinem Stuhl
zusammensackte. Nun würde das sechste Unglück kommen; das letzte aber
auch das Schlimmste! Mitleidig kamen Anna und Ina zu mir rüber. Während ich
Ina von meinem unheimlichen Traum erzählte, checkte Anna unseren
Onlinestundenplan auf ihrem Handy. «Gute Neuigkeiten!», unterbrach sie
mich mit strahlenden Augen, «Mathe fällt aus, wir haben zwei Freistunden!»
Wir gingen mit unseren Sandwiches nach draussen, wo inzwischen wieder
gutes Wetter herrschte. Die Wiesen waren jedoch nass und matschig. Von den
Bäumen tropfte es, obwohl es schon längst aufgehört hatte zu regnen. Die Luft
roch frisch und es war ein wenig Nebel entstanden. Auf dem Weg zu unserem
Stammplatz, dem Tischtennistisch, erzählte ich auch Anna von den neusten .Ereignissen. «Das Schnurband deines Schuhes ist aufgegangen», ermahnte
mich Ina, «Besser du bindest es schnell, bevor du noch drüber stolperst!»
Während meine Freundinnen weitergingen, kniete ich mich im Schatten eines
Baumes hin, um das Schnurband neu zu binden. Plötzlich hörte ich ein
komisches Geräusch. Es klang einem endgültigen Reissen fürchterlich ähnlich.
Auf einmal wurde der Schatten, auf dem ich mich niedergelassen hatte,
grösser. Ich sah auf und erblickte den Baum, der gerade Vorhin noch neben mir
gestanden hatte, nun über mir. Ich schrie, als er mit verrückter
Geschwindigkeit auf mich zu schnellte. Es fühlte sich jedoch an wie in Zeitlupe.
In dem Moment, als die dicke, kräftige Rinde auf mir aufprallte, schnellte ich in
meinem Bett hoch.


Es war nur ein Traum gewesen, all das war nicht in Wirklichkeit passiert! Ich
musste es erst realisieren. Alles aus dem Traum ergab auf einmal überhaupt
keinen Sinn mehr. Warum sollten meine Eltern mich vor einem Schultag bis 4
Uhr nachts Harry Potter schauen lassen? Und überhaupt, was für coole Eltern
lassen ihr Kind bei Freunden übernachten, wenn am nächsten Tag Schule ist?
Noch Etwas: Woher sollte ich wissen, dass mir genau sechs Unglücke
passieren? Erleichtert sah ich mich um. Auf meinem Kopfkissen prangte ein
grosser, feuchter Schweissflecken. Meine Decke war auf den Boden gefallen
und meine Uhr lag obendrauf. Sie war anscheinend in der Nacht mal wieder
von meinem Handgelenk gerutscht. Neben mir lagen Annas und Inas
Gästematratzen seelenallein und verlassen auf dem hölzernen Fussboden. Die
einfarbigen Decken waren zurückgeschlagen und die Stimmen meiner beiden
Freundinnen drangen aus dem Wohnzimmer zu mir herüber. Auf dem Wecker,
der immer auf meinem Schreibtisch stand, konnte ich, mit schläfrigen Augen,
den Wochentag Samstag erahnen. Darunter stand 11:07, die Uhrzeit. Müde
hievte ich mich aus meinem Bett und tappte mit nackten Füssen in die Stube.
Dort sassen Ina, Anna und meine Familie auf dem Sofa beisammen und
plauderten. Müde und zufrieden setzte ich mich zu ihnen. Ich sass einfach nur
da und hörte mir an was sie sich zu sagen hatten. Von meinem Traum aber,
habe ich nie jemandem etwas erzählt, nicht einmal meinen besten
Freundinnen Ina und Anna.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 30, 2021 ⏰

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