Kapitel 1

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ISA

Der Donnerstagmorgen begann mit schrillem Gelächter, das erschreckende Ähnlichkeit mit einer Kreissäge aufwies. Großvater war einer der Gründe, weshalb ich die Clique nie zu uns nach Hause einlud. An diesem Morgen wurden wir wieder einmal von seinem Lachen geweckt. Meine Mutter stand schon neben Großvaters Bett und starrte ihn aus müden Augen in Grund und Boden. Ihr Vater verstummte langsam schuldbewusst und murmelte wie jeden Morgen eine Entschuldigung. Seit dem Tod meiner Großmutter schien dieses schrille verzweifelte Lachen seine einzige Art zu sein, um mit der feindlichen Welt um ihn herum kommunizieren zu können. Da alle Plätze des nahen Altersheims derzeit belegt waren, zog der alte Mann einige Tage nach der Beerdigung seiner Frau zu uns. Inzwischen ersetzte sein Lachen, wann immer er sich an sie erinnerte und realisierte, dass sie nicht mehr bei uns war, fast schon den Wecker.
Unsere ganze Familie war etwas eigen. Aber welche ist das nicht.

Beerdigungen kann ich nicht ausstehen. Schon gar nicht, wenn der Tote mein Großvater ist. Er war gestern friedlich in seinem Sessel eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht, auch nicht, um einen seiner niveaulosen Witze zu reißen. Früher jedoch besaß Großvater einen schier endlosen Ehrgeiz dafür, seine Firma immer wieder zu erweitern und lebte nur für die langen hektischen Stunden in seinem modernen Büro.
Das könnte einer der Gründe gewesen sein, weshalb meine Großmutter eine heimliche Affäre mit einem ebenfalls verheirateten älteren Herrn anfing. Großvater war zu beschäftigt, um überhaupt etwas davon zu bemerken, doch das gesamte restliche Viertel wusste Bescheid. Und alle hielten dicht. Offenbar bemerkten sie, dass das Leuchten in die Augen meiner Großmutter zurückgekehrt war, das schon so lange begraben schien unter Haushalt, Kindern und Kirchgang. Natürlich gab es auch Gegenwind. Der Pfarrer etwa ließ keine Gelegenheit aus, meine Großmutter auf Verse im Alten Testament der Bibel hinzuweisen, die Ehebruch behandelten. Sie jedoch ließ sich davon nicht beirren und drehte den Spieß gegenüber ihren Kritikern um.
Wolle er mit Gott brechen, oder weshalb sonst nenne er ihr diese Verse, fragte meine Großmutter den Pfarrer. Da wusste er nicht mehr zu sagen, als dass er ein treuer Diener Gottes sei und es bleiben werde. Wenn sie meinen Cousinen, Cousins und mir davon erzählt hat, musste sie immer laut und frei lachen bei der Erinnerung daran.
Nach etwa zehn Jahren schließlich starb ihre Affäre und hinterließ ihr zur Überraschung von uns allen ein kleines Stück Land mit einer großen Eiche darauf, eingebettet in den Stadtpark. Sein Vater hatte es in jungen Jahren erworben und später seinem jüngsten Sohn vererbt. Es war nicht besonders weitläufig, dennoch bedeutete das Fleckchen Land beiden sehr viel, da sie sich dort zum ersten Mal begegnet waren.

Bevor mir bewusst wird, was ich da mache, bin ich schon zum Friedhofstor hinaus und auf die große Eiche im Park zugelaufen.
Dort haben wir vor sechs Jahren gespielt.
Sie und ich waren beste Freundinnen, bevor ihre Familie fortgezogen ist.
Nie wieder hat sie sich danach bei mir gemeldet. So vermisst wie gerade habe ich sie trotz Sophie und Vera schon lange nicht mehr. Während ich mich weinend an den breiten Baumstamm lehne, sinken meine schwarzen Stiefeletten immer weiter in den moosigen Grund. Es ist mir vollkommen egal. Wenn sie nur neben mir wäre mit ihren Haaren, die immer nach Meer duften. Sie ist mir so nah, dass ich fast in ihre Augen sehen kann. Da löst sich das Trugbild in Luft auf und ein weiterer Schluchzer quält sich aus meiner Kehle.

Der nächste Morgen ist ein Montag. An einem Montag haben sie und ihre inzwischen wohl längst ausgezogene Schwester aus dem Fenster des Umzugswagens gewinkt. Lachend. Als ob wir uns am Tag darauf wie immer an der Eiche treffen würden.
Stattdessen sitze ich ich eine halbe Stunde in der U-Bahn zur Schule, spiele wieder und wieder unsere Lieblingsplaylist ab. Stundenlang konnten wir uns deswegen fetzen.

Als die Tür aufschwingt, hören die anderen aus der Clique erst für einen Moment auf zu reden, dann beginnt das Getuschel erst recht, denn Frau Faller bittet eine neue Schülerin herein. Sie trägt Turnschuhe, Jeans und einen roten Hoodie. Ihre Haare fallen offen auf die Schultern und sie ist nur sehr dezent geschminkt. Die goldfarbene runde Brille auf ihrer hübschen Stupsnase sieht teuer aus.
Sie lässt den Blick durch den Raum schweifen, nimmt alles langsam in sich auf und denkt scheinbar gar nicht erst daran, sich vorzustellen. Die Neue wirkt wie eine junge Frau, die so etwas nicht nötig hat, weil sich ohnehin jedes menschliche Wesen hier in ihren Bann gezogen fühlt. Vielleicht ist es ihre ruhige Art oder die Präsenz von Stärke, die plötzlich in jeden Winkel des Klassenzimmers zu kriechen scheint. Selbst Frau Faller bleibt ausnahmsweise still. Der Blick der neuen Schülerin durchdringt weiter die stille Starre unseres Kurses. Niemand wagt sich zu rühren, aus Angst, eine ihrer Bewegungen zu verpassen. Oder fällt nur mir die mühelose Schönheit dieses Mädchens auf? Als ihre Augen sich in meiner Richtung ein kleines bisschen weiten, sehe ich mich um. Da ist niemand. Wieso hat sie mich so angesehen?
Unsere Augen begegnen sich nur drei Herzschläge lang. Aber das reicht.
Sie ist es.
Sie ist da, so vertraut wie früher.
Maren.

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WOW- danke an euch alle, die ihr meine Geschichte lest!
Danke für über 1k Reads (01.04.23) 🙏
Vielleicht denkt ihr jetzt, das sei doch nicht viel.
Doch ich bin einfach glücklich darüber, weil ihr meine Geschichte lest und euch hoffentlich darin wiederfinden könnt!
Wie findet ihr die Story?
Konstruktive Kritik ist immer willkommen!
Ich überlege derzeit außerdem, die short story auf Englisch zu übersetzen, sobald mir die Arbeit etwas mehr Zeit dafür lässt.
Habt ihr Interesse daran sie zu lesen?
Bitte kopiert oder übersetzt diese Geschichte nicht ohne mein Einverständnis.

Noch ein tolles Wochenende an alle Leser*innen.
Danke, dass es euch gibt 🙏 Denn jede*r von euch ist wertvoll 🏳️‍🌈
Eure Viola Anouk

Was uns bleibt ist Liebe 🏳️‍🌈 lesbian short story (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt