„Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum hat man mich nicht vorher gefragt, warum hat man mich nicht erst bekannt gemacht mit Sitten und Gewohnheiten, sondern mich hineingesteckt in Reih und Glied als wäre ich gekauft von einem Menschenhändler? Wie bin ich Teilhaber geworden in dem großen Unternehmen, das man die Wirklichkeit nennt? Warum soll ich Teilhaber sein? Ist das nicht Sache freien Entschlusses? Und falls ich genötigt sein soll es zu sein, wer ist denn da der verantwortliche Leiter? Gibt es keinen verantwortlichen Leiter? An wen soll ich mich wenden mit meiner Klage?"
In seinem Buch „Die Wiederholung" wirft Søren Kierkegaard mehrere Fragen auf, die nach den Grundvoraussetzungen menschlichen Lebens fragen. Im Grunde lassen sich diese auf zwei Fragestellungen zurückführen: Gibt es etwas Göttliches? Und habe ich einen Sinn im Leben, dem ich nacheifern muss?
Die Beantwortung dieser so fundamentalen Fragen hat Philosoph*innen, und davon hervorgehend viele Wissenschaftler*innen, schon seit den Anfängen unserer Existenz beschäftigt und bleibt bis heute unbeantwortet. Versucht man, eine Antwortmöglichkeit auf die gesamte Menschheit zu übertragen, so wird man schnell gut nachvollziehbare Ansätze finden: Biologisch gilt es als selbstverständlich, dass wir in unseren Eltern als Keimzellen heranreifen, dass sich unsere phänotypischen Merkmale durch Vererbung herausbilden, und dass wir schließlich im Uterus unserer Mutter zum Menschen werden. Wir sind also Chromosomen und Proteine, in die Welt geworfen durch Wahrscheinlichkeit, biologische Prozesse substituieren hier augenscheinlich einen Gott. Wir sind ein Raumschiff, welches durch das Universum gleitet, unsere Bauteile und Mechanismen sind durch Eigennamen wie Desoxyribonukleinsäure oder Adenosintriphosphat reguliert.
Wenige zweifeln die Korrektheit dieser biologischen Antwortmöglichkeit an, allerdings gibt es einige, denen die zugrunde liegende Fragestellung zu wenig weit geht: Ja, unsere individuelle Entwicklung ist auf genetische Erbprozesse zurückzuführen und ja, die Bestandteile unseres Raumschiffes sind im Grunde Elemente und Moleküle, wie auch immer man sie nennen mag, aber wer hat den Bau dieses Raumschiffes beauftragt? Gibt es einen Investor, und wenn ja, was ist seine Motivation, so viel in das Raumschiff, in uns, zu investieren?
Auch auf dieses Problem meinen viele eine Antwort zu wissen, selbst wenn im öffentlichen Diskurs meist nur zwei Radikale rezitiert werden: Demnach gibt es die, die an nichts glauben, die gotteslästerlichen Wissenschaftler, welche die Lücken, in denen man vorher etwas Überirdisches fand, weiter und weiter füllen. Auf der anderen Seite nennt man die Gläubigen, die meist irgendeiner Religion angehören und für verschiedene Lösungsansätze verschiedene Namen finden, aber im Endeffekt alle an dasselbe glauben: An einen oder mehrere Götter, welche ihre Lehren auf der Erde verbreitet haben, und in denen man im Ende erlöst sein soll. In Wahrheit gehören jedoch die wenigsten irgendeinem dieser Extrema an. Die Antwort auf eine Frage nach einem Schöpfer ist nämlich keine bipolare, sondern eine mit viel Spielraum für unzählige Überschneidungen und alternative Antwortmöglichkeiten. Oftmals bedarf es keiner unbeantworteten Lücken in der Wissenschaft, um von der Komplexität hinter dem Phänomen „Leben" überwältigt zu werden und sich eine Frage nach etwas Realitätsüberschreitendem zu stellen. Etliche finden Geborgenheit in ihrem Glauben und eifern trotzdem so zielstrebig nach naturwissenschaftlichen Erklärungen. Und wieder etliche finden für sich selbst eigene Lösungen, mit denen sie sich anfreunden und gut leben können.
Eine Eigenschaft Kierkegaards Fragen wird somit schon ersichtlich: Das Suchen nach einer Antwort auf diese Probleme ist von zutiefst persönlicher Art, eine allumfassende Antwort darauf wird zwar seit jeher gesucht, wird jedoch wahrscheinlich nie gefunden werden. Dennoch macht die Jagd darauf Sinn, denn an irgendeinem Punkt einer jeden Reise durch den unergründlichen Weltraum wird sich der Reisende wie Kierkegaard fragen: Warum hat man mich für diese Mission auserwählt? Wohin kann ich meine Klagen bei all den Schwierigkeiten senden? Viele, die sich solche Fragen gestellt haben, sind daran verzweifelt, denn es ist ein Gefühl drastischer Hilflosigkeit, wenn niemand einem helfen kann, und oftmals scheint es ein Fragen in die Leere zu sein, aus der nie eine Antwort erwidert wird. Klar ist allerdings, dass wir hier sind. Was dieses „Hier" ist, und inwiefern wir „sind" ist unklar, aber klar ist, dass wir hier sind, ob nun auserwählt oder hineingeworfen. Man kann dies mit Schrödingers Wellenfunktion vergleichen: Hierbei wird die Position eines Materieteilchens mithilfe einer stehenden Welle beschrieben. Das Teilchen nimmt dabei eine Superposition ein, in welcher es an all diesen Orten, die von der Funktion definiert sind, gleichzeitig ist. Beobachtet man nun dieses Teilchen, kollabiert die Wellenfunktion sofort, das Teilchen befindet sich nun an einem eindeutigen, beobachtbaren Ort. Überträgt man diesen Gedanken auf ein Individuum, kann man feststellen, dass es für eine Definition von dem Platz, den es im „Hier" einnimmt, unzählige Möglichkeiten gegeben hätte. Dadurch, dass wir selbst jedoch im Begriff sind, uns wahrzunehmen, über uns nachzudenken und uns anzuzweifeln, scheint die Wellenfunktion zusammenzubrechen und genau diese Version von „uns" übrig zu lassen, die wir vorfinden. Wir sind nicht irgendetwas, wir haben unseren fixen Platz und es ist an uns, etwas daraus zu machen. Sagte nicht schon René Descartes: „Ich denke, also bin ich." Das Denken an sich war seine einzige Gewissheit, ließ seine Wellenfunktion kollabieren und hinterließ nur noch ihn als Möglichkeit. Warum das so ist, musste auch er für sich überlegen, aber die Gewissheit, dass er ist, erkannte er. Die Gewissheit, als Individuum zu sein, macht die Notwendigkeit einer allumfassenden, für jeden geltenden Antwort obsolet.
Nach dieser Ausführung über die Hintergründe unseres Daseins, über den Bauplan unseres Raumschiffes, bleibt nun die höchst undankbare Aufgabe, die Route dieses Raumschiffes zu erkennen, das Ziel, welches ein jeder für sich anstrebt. „Warum soll ich Teilhaber sein?", formuliert Kierkegaard diese in sich so ziellose, aber fundamentale Frage. Es ist an sich schon ironisch, dass die Frage nach einem Ziel im Leben ziellos sein soll. Mancher wird sogar entrüstet sein und meinen, er habe schon seinen Sinn gefunden, wisse bereits, wohin seine Reise gehe. Dieser so Zuversichtliche übersieht aber, dass ein Sinn oder ein Ziel sich im Laufe des Lebens ändern kann. Der Weise erkennt, worin der Sinn in seinem Leben gerade liegt, ist sich aber gleichzeitig bewusst, dass dieser ihn durch unerwartete Wendungen in eine vollkommen konträre Richtung leiten kann. Was den Weisen vom Laien unterscheidet ist, dass der Weise diese Änderungen erwartet und mit ihnen lebt, während der Laie davon überrumpelt wird und in eine Krise stürzt. Doch auch, wenn das Befolgen einer Route somit sinnlos erscheint, ist genau das essentiell, um nicht von einem gut geplanten Weg abzukommen. Abseits einer berechneten Route schwirren Meteoriten, Strahlen und sonstiges, bisweilen unbekanntes Fremdes.
Obwohl das Beantworten einer Frage nach dem Sinn, das Berechnen einer Route durch das oftmals unberechenbare Weltall persönlich und unsicher zu sein scheint, gibt es einige universelle Rahmenbedingungen, sozusagen Guidelines zur Routenwahl, die allgemein feststellbar sind. Zum einen gilt es zu postulieren, dass ein jedes Leben zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz einen Sinn oder ein Ziel haben muss. Dies ist erstens logisch, da kein funktionierendes Raumschiff je ziellos durch das All fliegt, andererseits ist es notwendig, damit ethische und moralische Grundprinzipien funktionieren: Welche Berechtigung hätte ein Leben ohne Sinn? Zum anderen ist es möglich, das Ziel eines Sinnes an sich herauszufinden: Wozu soll die Befolgung einer Reiseroute folgen, was erreiche ich im Leben, wenn ich meinen Sinn erfülle? Die fundamentalste, grundlegendste Antwort, die es auf diese Frage gibt, ist: Es soll zu Wohl fühlen. Dies kann nun körperliches, soziales oder spirituelles Wohl sein, aber im Endeffekt bleibt es mein Wohl, das ich erreichen will, wenn ich meiner Route folge.
Søren Kierkegaard stellt seine Fragen ins Nichts, denn niemand kann sie allumfassend beantworten. Allerdings erwartet er sich vermutlich keine Antwort auf seine Fragen, sondern stellt sie bewusst als Denkanstoß für jeden einzelnen, der notwendig ist, um diese doch so irdische Reise durch das Außerirdische zwar nicht problemlos, aber zielgerichtet und ohne gröbere Schäden zu bewältigen. Eine allgemeine und immer gültige Antwort wird man nie finden, weder universell noch für sich selbst, aber es kann helfen, in gewissen Lebensabschnitten eine Richtung zu kennen, in die es gehen soll. Ja, du wurdest ungefragt ins Leben geworfen, und oftmals scheint das Raumschiff außer Kontrolle zu geraten, von der geplanten Route abzukommen. Aber letztendlich kann es beruhigend sein zu wissen, dass das Schiff überhaupt einer Route folgt, und dass du überhaupt noch fliegst. Also, flieg gut, kleines Raumschiff, auch wenn dein Weg oft düster und verklärt scheint.
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Über die Rahmenbedingungen des Lebens und ein kleines Raumschiff
AcakIm Zuge einer Philosophieolympiade durfte ich mir letztens Gedanken zu einem Zitat des Philosophen Kierkegaard machen und einen Essay dazu verfassen. Hier das Resultat